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DDR-Regierung schreibt Greifswald ab

Kabinettsvorlage bezeichnet die Nachrüstung der vier Schrottreaktoren als „volkswirtschaftlich nicht effektiv“  ■  Von Gerd Rosenkranz

Berlin (taz) - Die Tage der vier Reaktorinvaliden in Lubmin bei Greifswald sind gezählt. In einem am Mittwoch von Schwerindustrieminister Kurt Singhuber dem DDR-Ministerrat vorgelegten Papier zur „Ausarbeitung einer Konzeption für eine neue Energiepolitik“ wird erklärt, „daß eine Rekonstruktion der Blöcke I bis IV am Standort Lubmin volkswirtschaftlich nicht effektiv ist“. Auf deutsch: Eine Nachrüstung der vier morschen Meiler hält die Regierung für sinnlos. Damit scheint die endgültige Stillegung aller bisher betriebenen vier Reaktorblöcke der Atomzentrale nach der Wahl am 18. März praktisch beschlossene Sache.

Gleichzeitig geht aus der Vorlage, die von der Regierung mehrheitlich zustimmend zur Kenntnis genommen wurde, hervor, daß die Atomstromkapazität in der DDR bis zum Jahr 2000 gegenüber der heute installierten Leistung mehr als verdreifacht werden soll. „Das würde den planmäßigen Betrieb aller an den Standorten Lubmin (4* 440 Megawatt) und Stendal (4.000 bis 4.600 Megawatt) vorgesehenen Kapazitäten bedingen“, schreibt Singhuber in dem 13 Seiten umfassenden Papier, das der taz vorliegt. In Lubmin/Greifswald befinden sich neben den vier alten derzeit drei weitere Blöcke im Bau, ein achter Meiler steht nach dem schweren Störfall während des Probebetriebs am 24. November vergangenen Jahres still. In Stendal wird seit 16 Jahren an zwei ebenfalls sowjetischen Reaktoren gebaut, zwei weitere sollen voraussichtlich von Siemens/KWU geliefert werden.

Das Gezerre um die vier morschen Reaktorblöcke in Greifswald hatte in den vergangenen Wochen dazu geführt, daß sich Experten aus beiden deutschen Staaten bei den sowjetischen Reaktorlieferanten in Moskau die Klinke in die Hand gaben. Zuerst sprachen die Betreiber aus Greifswald in der sowjetischen Hauptstadt vor, um Einsicht in fehlende Unterlagen insbesondere zum Werkstoffzustand der Reaktordruckbehälter, zu erhalten. Sie kehrten mit leeren Händen zurück, ebenso wie die Vertreter des Staatlichen Amtes für Atomsicherheit und Strahlenschutz (SAAS), die in der vergangenen Woche in Moskau verhandelten. Die Unterlagen seien nicht mehr vorhanden, wurden die Experten aus der DDR abgefertigt. Diese Woche schließlich schickte Bundesreaktorminister Töpfer Vertreter der Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS) gen Osten, die Mitte Februar in einem ersten Zwischenbericht die Stillegung von zwei der vier Reaktorblöcke empfohlen hatten. Der bundesdeutschen Delegation ging es dem Vernehmen nach auch um die Rückwirkungen, die ein Abschalten in Greifswald auf den weiteren Betrieb von acht baugleichen AKWs in Fortsetzung Seite 4

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der Sowjetunion, Bulgarien und der Tschechoslowakei haben würde. Gegenüber den ersten Thesen zum Energiekonzept, die Singhuber am 19. Februar dem DDR-Wirtschaftskabinett vorgelegt hatte, wird in der neuen Vorlage eine schärfere Einsparstrategie bei der Primärenergie anvisiert. Die Verwirklichung einer neuen Energiepolitik erfordere „aus ökologischer und ökonomischer Sicht eine Senkung des Primärenergiebedarfs“, heißt es in der Vorlage. Vor zehn Tagen war noch von einem „gleichbleibendem Primärenergiebedarf bis zum Jahr 2000“ ausgegangen worden. Zum „erreichbaren Umfang

und Tempo“ der Reduzierung, schreibt Singhuber jetzt, seien „noch umfangreiche Untersuchungen erforderlich“.

Auch weiterhin erwartet der Schwerindustrieminister wachsenden Strombedarf. Dieser werde das Ergebnis der erwarteten Innovations- und Automatisierungsprozesse in der Wirtschaft, einer stärkeren Ausstattung der privaten Haushalte mit elektrischen Geräten sowie „von energieverbrauchenden Umwelttechnologien“ sein.

Ausdrücklich wird in dem Papier darauf hingewiesen, daß es über „die Entwicklung des Elektroenergiebedarfs und die Bestimmung der effektivsten Variante für seine Deckung keine übereinstimmenden Auffassungen (in der Regierung; d.Red.) gibt“.

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