: Olympia: Friedensfest oder Supershow?
Die Vieldeutigkeit der Spiele / Nationalisierung der Massen oder Verbrüderung der Völker? / Kult des Ich oder Feier der Gemeinschaft? ■ Von Thomas Alkemeyer
Der rot-grüne Senat will andere Olympische Spiele in einem „multikulturellen“ Berlin. Die Erwartungen und Ziele allerdings, die an die Spiele geheftet werden, sind ganz und gar nicht bescheiden. Was einstmals als Vorwurf an den Sport gerichtet wurde, nämlich daß er sich vor den Karren der Politik habe spannen lassen, wird nun offensiv gewendet: Bewußt lädt der Senat sein Vorhaben politisch auf - mit Völkerverständigungssymbolik. Olympische „Friedensspiele“ von Ost und West in ganz Berlin sollen es werden. Mehr noch: Die Sinnkrise des Olympischen Sports gar will man beheben und den ach so hehren „Ursprungsgedanken Olympias“ wiederaufleben lassen, so Staatssekretär Kuhn.
Erinnern wir uns: Binnen kürzester Zeit hatten sich die Olympischen Spiele von Los Angeles 1984 vom „friedlichen Wettstreit der Jugend der Welt“ zur nationalen Selbsthuldigung der USA umgewandelt. Im umgebauten Olympiastadion von 1932 wurde eine prächtig-kitschige Eröffnungsfeier zelebriert, bei der ein erprobter Hollywood -Regisseur Regie führte. Durch die riesigen, neoklassizistischen Bögen und Säulen des Stadions waberte Nebel, Weiheworte eines unsichtbaren Sprechers erklangen, Cowboys und Indianer ließen die glorreiche Geschichte der USA Revue passieren, und abends schließlich zuckten Laserstrahlen durch die Nacht.
Die Olympischen Spiele von Seoul 1988 begannen ähnlich geschmackvoll. Drachentrommeln neben Düsenjägern, Bauerntänze neben Fallschirmspringern, Gebetsmusik und schamanische Exorzismustänze neben der amerikanischen Olympia-Popschnulze „Hand in Hand“ - und alles in einer futuristisch anmutenden, gigantischen Betonschüssel, die den hervorragenden Ausweis der wirtschaftlichen Prosperität dieses Schwellenlandes darstellen sollte. 14.500 Menschen hatten mitgewirkt, um die Nacht der jahrhundertealten Traditionen zu gestalten; 70.000 saßen im Stadion, noch einmal 350.000 standen am Han-Fluß, auf dem die Drachentrommel-Schiffe zum Stadion glitten, und schätzungsweise 600 bis 800 Millionen Zuschauer verfolgten die Eröffnung weltweit im Fernsehen.
In L.A. wie in Seoul war das Weltspektakel junger, kerniger Körper mit nationalen Emotionen überfrachtet. Entschieden die Ringrichter 1984 unter dem lautstarken Druck der Zuschauer auch dann für US-amerikanische Boxer, wenn diese kaum einmal ihren Gegner berührt hatten, so tendierten die nationalistischen Ausbrüche in Seoul zum einen zu zwanghafter Freude, zum anderen zu übersteigertem Schmerz oder einer Wut, die zur Gewaltausübung neigte: Aufgebrachte südkoreanische Zuschauer, Trainer und Funktionäre verprügelten gemeinsam die Kampfrichter, die „ihrem“ Boxer angeblich den Sieg verwehrt hatten. Eine aggressive „Siegeswelt“ sah auch die französische 'Le Monde‘. Kein Wunder: Jahrelang war die Bevölkerung für dieses „Friedensfest“ mobilisiert worden. „Bei den Spielen zu versagen, wäre ein Schandfleck in unserer Geschichte“, hatte Präsident Roh vorher verkündet.
Olympische Spiele setzen Emotionen in Bewegung. Mitunter so heftig, daß die Grenzen zwischen sportlichem Wettstreit und alltäglichem Ernst einzustürzen drohen und sich die Affekte, die immer mit im Spiel sind, wenn Sport getrieben wird, über dessen Rahmen hinaus ergießen. Die emotionalen Wirkungen, die von Olympischen Spielen ausgehen, haben etwas mit deren eigentümlichen Charakter zu tun: Sie vereinen die Ausgelassenheit eines (Volks-)Festes mit der Feierlichkeit gemeinschaftlicher, verbindlicher Rituale, sie sind gewaltiges Spektakel zur Befriedigung der Schaulust und Spitzenereignis des modernen Leistungssports, sie verschmelzen die „Kälte des Geldverdienens mit den Leidenschaften der Körper“ (Gebauer/Hortleder).
Olympische Inszenierungen sind Seifenopern zur Ersatzverzauberung einer zunehmend entzauberten Welt, sinnlich unmittelbar wirkende Einrichtungen zur Sinnstiftung. Sie wenden sich nicht ans sprachfähige Bewußtsein, sondern an darunterliegende Schichten der Persönlichkeit, sie leben von der Sinnlichkeit des Straßenschmucks, der Dichte der Festmassen, von Fahnen, Fackeln und Musik, und von der körperlichen - oft erotischen - Präsenz der AthletInnen.
Auch die Inhalte der Arrangements sind für die Anziehungskraft der Spiele verantwortlich. Das wirklich Bahnbrechende und Neue am Vorhaben Pierre de Coubertins „Vater“ des olympischen Gedankens - bestand darin, den „welthistorischen Prozeß“ ausgangs des 19.Jahrhunderts anschaulich zu machen. In Olympischen Spielen treffen sich der Idee nach - die stärksten Athleten der Welt als Repräsentanten ihrer Länder, um unter sich in fairem Wettstreit den Besten der Besten zu ermitteln: all nations, all sports - griffiges Bild eines (Welt)-Marktes konkurrierender Personen und Nationen. Formelhaft und klar demonstrieren die olympischen Wettkämpfe die Ideologien von (Chancen-)Gleichheit und Konkurrenz, eine „Aristokratie der Leistung“ (Coubertin).
1968 in Mexiko, als die Schwarzen John Carlos und Tommie Smith - Erstplazierte im 200-Meter-Lauf - bei der Siegerehrung die geballten Fäuste reckten und den offiziellen Akt politisch zur „Black Power„-Kundgebung umfunktionierten, war die Öffentlichkeit schockiert und empört. Worin bestand der Skandal, der offenbar so groß war, daß Smith - heute Sportprofessor in den USA - nicht nur den Unmut Offizieller zu spüren bekam, sondern sogar Drohbriefe aufgebrachter Bürger erhielt?
Carlos und Smith hatten die ihnen vom olympischen Protokoll zugewiesenen Rollen verlassen. Sie hatten den vorgesehenen Rahmen des Rituals gesprengt, seine „Reinheit“ politisch „beschmutzt“, die Religiosität des olympischen Zeremoniells unterwandert. Als Heroen werden Olympiasieger heiliggesprochen. Das Treppchenpodest, die aufsteigenden Fahnen, die Hymnen, die Medaillen und das Schweigen der Zuschauer verleiht ihnen die überwirkliche Größe von Comic oder Westernhelden. Wie diese bedienen sie die von der Realität beständig dementierte Sehnsucht nach individueller Größe und/oder nationaler Stärke.
Was Carlos und Smith sich erlaubt hatten, war ein Sakrileg, begangen an den modernen Stellvertretern der antiken Gottheiten, denen die Athleten des Altertums ihre Leistung weihten: der Nation und dem „olympischen Geist“. Denn über dem einzigartigen Einzelnen existiert im olympischen Zeremoniell stets noch etwas Höheres. Der Athlet hat - so formulierte es bereits Coubertin in seiner religio athletae - seinem „Vaterland“, seiner „Rasse“ und seiner „Fahne“ ebenso ein Opfer geleistet wie der in den fünf verschlungenen Ringen der olympischen Flagge fixierten Idee eines Weltbürgertums.
Von Beginn an waren die Olympischen Spiele doppelgesichtig. Sie vereinen Individualismus mit Kollektivismus, Nationalismus mit Internationalismus. Sie bringen die Repräsentanten der Nationen zusammen, aber ihr Zusammenhang besteht im Gegeneinander des sportlichen Wettkampfes. Diese Vieldeutigkeit war und ist Garant der Ausstrahlungskraft und der weltweiten Verbreitung: Ganz unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen und Systeme können sich in ihnen wiederfinden und die olympische Symbolik in ihrem Sinne auslegen. Athleten können ebenso Marionetten nationaler Größenphantasien werden wie zu Vorbildern internationaler Annäherung.
Welche Interpretation sich letztlich durchsetzt, das allerdings ist keine Frage nur „von oben“ erfolgender Manipulationsstrategien. Die „Regisseure“ und Massenmedien machen nur Angebote, wie sie angenommen und ausgefüllt werden, hängt von den Zuschauern ab. Die Massen tragen ihre eigenen sinnlichen Begehren und Interpretationen ans Geschehen heran. Diese Wechselwirkungen erst lassen Hysterien entstehen, wie sie in L.A. und Seoul zu beobachten waren.
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