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Nichts ist so realistisch wie die Utopie

Kölner „Aktion für mehr Demokratie“ stemmt sich gegen die abfahrenden Züge der DDR-Anschlußlogik / Die osteuropäische Intelligenz verhindert SPD-Propagandaveranstaltung und setzt auf die Moral in der Politik  ■  Aus Köln Gerd Nowakowski

Gegen die derzeitige „Eisenbahnermentalität, die überall nur abfahrende Züge sieht“, wolle man „mehr Nachdenklichkeit“ setzen und zugleich die Rolle der Sozialdemokratie in einem gewandelten Europa diskutieren, hatte der Initiator und Künstler Klaus Staeck das Ziel des Gespräches am Samstag nachmittag umrissen.

Sozialdemokratische Polit-Prominenz satt, dazu zahlreiche Vertreter der politischen und kulturellen Elite Osteuropas waren dem Aufruf gefolgt. Eine SPD-Propagandashow zu werden, hatte die Veranstaltung in Köln beste Voraussetzungen - daß sie das nicht wurde, war vor allem den osteuropäischen Diskutanten zu danken.

„So viel Anfang war nie“, hatten die Veranstalter der „Aktion für mehr Demokratie“ als Motto gewählt; es waren die osteuropäischen Gäste, die die Sozialdemokraten daran erinnerten, daß zu dem Blick nach vorne die Auseinandersetzung mit dem gehöre, was zu Ende geht. Insbesondere die Solidarnosc-Vertreter klagten bitter über den zehnjährigen Boykott der SPD, die ausschließlich Kontakte mit der kommunistischen Regierung in Polen pflegte.

Wie nötig die Aufarbeitung der eigenen Rolle ist, verdeutlichten die entrüsteten Reaktionen. Nur SPD -Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine stand dazu, daß das Paktieren mit der Macht notwendig gewesen sei; der stellvertretende SPD-Fraktionschef Ehmke und die ÖTV-Chefin Wulf-Mathies stritten den Vorwurf der Solidarnosc-Vertreter glattweg ab - obwohl letztere sehr wohl weiß, wie schwer sich hiesige Gewerkschaften mit der Solidarnosc taten.

Kann aus solcher Verdrängung mehr entstehen als eine andauernde Hypothek für die Zukunft? Es war bezeichnend, daß bei der SPD quasi als linkes Gegenstück zu den Ressentiments der Rechten gegenüber den Polen ein unangenehmer Paternalismus mitschwang.

Ins Zentrum der siebenstündigen Veranstaltung geriet angesichts der drohenden Weltzerstörung immer wieder die Rolle der Moral in der Politik. Der Schriftsteller Lew Kopelew nannte die gegenwärtige Trennung von Moral und Politik die „Vorbedingung für die Apokalypse“ und die Kultur das Überlebensinstrument der Menschheit. Doch über die Rolle der Intellektuellen im politischen Prozeß bestand Dissens. Wurde einerseits der Versuch des tschechischen Präsidenten Havel hervorgehoben, Ethik in die Politik zu bringen, so setzte der ungarische Philosoph Vajda die Forderung dagegen: Künstler raus aus der Politik, um die eigene Unabhängigkeit zu bewahren. Daß in manchen Ländern nur die Literaten einen unbelasteten Neuanfang repräsentieren, wurde mitgedacht.

Es wunderte nicht, daß es die Schriftsteller der DDR, nicht der CSSR sind, die sich ängstigen, nicht zum Volk zu gehören. In der DDR, so der Schriftsteller Lutz Rathenow, hätten eben zu viele Schriftsteller eine „ziemlich miese Rolle ziemlich gut gespielt“. War es nur Zufall, daß es gerade jene zur Macht gelangten Vertreter der ehemaligen osteuropäischen Opposition sind, die am deutlichsten Realpolitik betrieben und vor zuviel Moral in der Politik warnten? Erst müsse die Wirtschaft funktionieren, alles andere komme hinterher, meinten die Solidarnosc-Vertreter, und auch der stellvertretende Vorsitzende der DDR-SPD, Markus Meckel, plädierte für das Primat der Ökonomie.

Zu Verteidigern eines Sozialismus machte sich keiner der osteuropäischen Gäste. Der Vorsitzende der sowjetischen Memorial-Gruppe, Yuri Kariakin, erinnerte mit Hinweis auf Begriffe wie „wahrer Sozialismus“ oder „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ daran, daß „Substantive, die sich mit Hilfe von Adjektiven retten, keine Lebensberechtigung haben“.

Es blieb Oskar Negt vorbehalten, davor zu warnen, den Sozialismus zu schnell über Bord zu werfen. Er gestand selbstkritisch ein, sich bei der Analyse geirrt zu haben: er habe sich gewünscht, daß die Menschen in Osteuropa den Humanismus einklagen; „daß sie den Kapitalismus einklagen, habe ich mir nicht vorstellen können“. Grund zum Optimismus sah er dennoch. Nichts sei heute so realistisch wie die Alltagsutopien der Menschen von einem aufrechten Leben, erklärte er unter Beifall.

In dieser Frage sah der ehemalige Verfassungsrichter Helmut Simon in der Bundesrepublik genug zu tun. Er sprach von einer „bedrückenden Politiklandschaft“ in der Bundesrepublik, in der auf die „Stunde der Geschichte“ mit bloßer Technokratie und einem Anschluß nach Artikel 23 geantwortet werden solle. Simon forderte nachdrücklich, „nicht zu klein, zu kurzatmig“ zu denken. Auch dem Grundgesetz stünde es gut an, bei einem Vereinigungsprozeß mit der DDR um die Erfahrungen aus vierzig Jahren Bundesrepublik aktualisiert werden. Simon wünscht sich plebiszitäre Elemente, die Überprüfung des Beamtenrechts, die Verankerung von Mitbestimmung und Ökologie sowie das Verbot der Aussperrung.

Klaus Staeck sieht beim Regierungslager ein „eiskaltes Kalkül“, Ressentiments zu schaffen und auf das Nationale zu setzen; zu testen, ob die Gesellschaft bereit ist, den „Endsieg mitzufeiern“. Und auch Lafontaine warf dem Bundeskanzler vor, er „organisiere Feindschaften“ gegenüber den Partnerländern mit dem Versuch, beim Anschluß der DDR vollendete Tatsachen zu schaffen.

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