: Der Druck auf die Palästinenser steigt
■ Aus Bonn Georg Baltissen
Die Annäherung der Staaten Osteuropas an die westlichen Staaten und die „Normalisierung“ ihrer Beziehungen zu Israel haben für die arabische Welt und die PLO ernstliche Konsequenzen. Die PLO muß bereits jetzt einen stetigen Rückgang der materiellen und politischen Unterstützung durch die ehemals sozialistischen Staaten hinnehmen.
Die Auswanderung Hunderttausender Juden aus der Sowjetunion macht die Situation noch problematischer: Sofern die sowjetisch-jüdischen Auswanderer nämlich tatsächlich in großer Anzahl von Israel aufgenommen werden, könnte daraus eine direkte und massive Bedrohung für die Palästinenser in den israelisch besetzten Gebieten entstehen. Noch sind es erst Hunderte von palästinensischen Frauen und Kindern, die zumeist nachts über den Jordan abgeschoben werden, weil sie keine Aufenthaltserlaubnis besitzen. Diese Frauen, die in der Westbank verheiratet sind, können nur mit einem Besuchervisum einreisen, weil die Besatzungsbehörden die beantragte Familienzusammenführung verweigern. Nach Angaben der PLO haben circa 200.000 PalästinenserInnen in der Westbank einen solchen ungesicherten Status. Eine massive sowjetisch-jüdische Einwanderung würde den Druck auf die Palästinenser in den israelisch besetzten Gebieten weiter erhöhen.
„Wenn wir eine halbe Million Juden aus der Sowjetunion bekommen, ist alles Gerede über Kompromisse und den Tausch von Land gegen Frieden vorbei“, sagte der Bürgermeister der Westbanksiedlung Ariel, wo bereits 200 sowjetische Juden untergebracht worden sind.
Genau dies ist die Befürchtung der PLO: „Vielleicht wird man im Rückblick einmal sagen, daß die jüdische Immigration eine politische Lösung des Nahostkonflikts im Jahre 1990 vereitelt und gar den Grund für einen neuerlichen Nahostkrieg geliefert hat“, schrieb die PLO-nahe arabische Wochenzeitung 'Al Yaum Al-Sabi'eh‘. Die Torpedierung des Friedensprozesses, der gegenwärtig irgendwo zwischen Schamir - und Baker-Plan pendelt, könnte in der Tat das erste konkrete Ergebnis der Einwanderungswelle sein.
Ein zweites einschneidendes Resultat dürfte in der Entschärfung der sogenannten „demographischen Bombe“ liegen. Hatten bislang israelische Politiker eine Annexion der besetzten Gebiete abgelehnt, weil die Herrschaft über eine wachsende arabische Bevölkerung den „rein jüdischen Charakter“ des Staates gefährde, wäre diesem Argument jetzt der Boden entzogen. Die höhere arabische Geburtenrate, die bis zum Ende des Jahrtausends einen Gleichstand zwischen jüdischen und palästinensischen Einwohnern im ehemaligen Mandatsgebiet Palästinena zur Folge hätte, wäre durch die Neueinwanderer kompensierbar.
Das Exekutivkomitee der PLO hat deshalb ein Memorandum mit folgenden Schritten verabschiedet:
-Druck auszuüben auf Washington, damit mehr als nur 40.000 sowjetische Juden pro Jahr aufgenommen werden.
-Die westeuropäischen Staaten, Kanada und Australien zu überreden, ihre Türen für sowjetische Emigranten zu öffnen.
-Die Auswanderung sowjetischer Juden von der israelischen Zusicherung abhängig zu machen, daß diese nicht in den besetzten Gebieten angesiedelt werden und dies halbjährlich zu überprüfen.
-Finanzielle Zuwendungen für die Auswanderer, damit sie nicht auf die Freitickets angewiesen sind, die für den Direktflug nach Israel von der Jewish Agency gestellt werden.
Da in der Vergangenheit mehr als 80 Prozent der Juden die USA oder Kanada als „Land der Verheißung“ wählten, drängt die PLO auf neue „Durchgangslager“, wie sie früher in Österreich bestanden.
Erste Gespräche zwischen der PLO und der Sowjetunion führten bislang lediglich zur Aussetzung des Abkommens über Direktflüge zwischen Tel Aviv und Moskau. Auch will die Sowjetunion die Auswanderung von Juden nach Israel nicht an die Bedingung knüpfen, daß Israel sich zu Friedensverhandlungen mit der PLO bereitfindet.
Alarmiert ist vor allem der jordanische König Hussein: Er muß befürchten, daß sich die Auffassung des rechten Lagers in Israel, derzufolge Jordanien der palästinensische Staat in der Region ist, mit Hilfe der sowjetischen Juden doch noch durchsetzen läßt, sobald Tausende Palästinenser aus den besetzten Gebieten nach Jordanien verdrängt werden. Eine solche massive Vertreibung müßte für alle arabischen Staaten ein Kriegsgrund sein, den sie aber mangels sowjetischer Unterstützung nicht führen könnten. Empört zeigte sich der jordanische Herrscher über die US-Regierung, der er vorwarf, den „ganzen Status der besetzten Gebiete“ in Frage zu stellen und die Friedensformel „Land gegen Frieden“ aufzugeben.
Der Generalsekretär der Arabischen Liga, Schadli Al-Klibi, warnte vor einem neuen Desaster, das der Staatsgründung Israels 1948 oder der arabischen Niederlage von 1967 gleichkäme. Die Liga will zwei Delegationen entsenden; eine in die europäischen Staaten, die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion, eine zweite soll in den arabischen Hauptstädten über eine gemeinsame arabische Gegenstrategie verhandeln.
Bei den Palästinensern muß die gegenwärtige Entwicklung bittere Erinnerungen an die Anfänge des Konflikts wachrufen, als der britische Außenminister Lord Balfour der zionistischen Bewegung eine „jüdische Heimstätte“ in Palästina versprach, die indes nicht zu einer Beeinträchtigung „der bürgerlichen und religiösen Rechte der in Palästina bestehenden nicht-jüdischen Gemeinschaften“ führen sollte.
Heute wird aufgrund einer faktischen Quotierung der jüdischen Einwanderung in die USA der jüdische Emigranten und Flüchtlingsstrom aus der Sowjetunion nach Israel und in die besetzten Gebiete gelenkt. Dort - so fürchten die Palästinenser - verhilft er den Expansionisten in Israels politischem Lager zu einem „Groß-Israel“, gerade so, wie die Einwanderung verfolgter Juden in den dreißiger und vierziger Jahren der zionistischen Bewegung zur Staatsgründung verholfen hat.
Zwar haben sich die Regierungen der USA und der UdSSR gegen eine Ansiedlung sowjetischer Juden in den besetzten Gebieten ausgesprochen. Die USA hat die Zahlung einer „Eingliederungshilfe“ für diese Juden in Höhe von 400 Millionen Dollar von der Erfüllung dieser Forderung abhängig gemacht. Aber verhindern kann und wird die Ansiedlung wohl kaum jemand. Die PalästinenserInnen in den besetzten Gebieten und die PLO sehen schweren Zeiten entgegen.
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