: „Helmut ist mein Freund, den verehre ich“
Vom Trend unterscheidet Leipzig nur der höhere DSU-Stimmenanteil / Westlicher Bier- und Schrippendampf über der Stadt / SPD verdrängt die Niederlage mit Zweckoptimismus: „Bei den Kommunalwahlen sehen wir uns wieder“ / Bündnis 90 zwischen Frust, Hardrock und „Visionen“ ■ Aus Leipzig Petra Bornhöft
Kaltenkirchener Currywurstdämpfe, Stuyvesant-Sonnenschirme gegen blusenwarmes Wetter, Spielzeug-Autolawinen und Schokoplätzchen zum Kurs von 1:4,5, im Kieler-Holstenedel -Bierzelt das Lied: „Ich kauf‘ mir 'nen Bungalow in Santa Nirgendwo“. Kein Zweifel, in der Leipziger Innenstadt schäumt das Leben wie in Castrop-Rauxel bei der Frühjahrskirmes. Nur selten in der Menge der Sonntagsflaneure erkannt, aber dann schnell um ein Autogramm gebeten, schob Günter Grass über den Marktplatz. Der private Wahlbeobachter sieht eine Spur trauriger als gemeinhin aus. „Ich habe Angst, daß die Konservativen das Rennen machen“, schwant dem Schriftsteller Grass drei Stunden vor Schließung der Wahllokale. „Die Diffamierungen waren zu stark, und die Leute glauben, das Geld käme nur über Kohl.“ Still verschwindet der Mann zwischen den Spaziergängern.
Stunden später bestätigen Zahlen die Prognose. Verschwommen hingegen bleiben die Gründe für den Wahlsieg der Allianz. Gerstensaftklar benennt es nur der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Jürgen Warnke (CSU), im Festzelt der DSU, und das noch vor der ersten Hochrechnung: „Je näher die bayrische Grenze liegt, desto größer unser Einfluß, desto besser wird das Ergebnis der freiheitlichen Wahlen sein.“ Während der Minister im grau-grünen Trachtenanzug sich freut, beginnen die handverlesenen Mitglieder und Sympathisanten der DSU im Zelt mit dem Trinken.
Noch sind ARD-Fußball und -Tennis an den Fernsehschirmen interessanter als die ersten Trendmeldungen an der überdimensionalen Videowand. Der DSU-Vize, Joachim Hubertus Nowack (55) klagt auf einer Holzbank, er habe im Wahlkampf zehn Pfund abgenommen, dafür sei es ein „schöner Wahltag“ gewesen. „Zehn Prozent für die DSU in Mitteldeutschland DDR mag ich nicht sagen, da fehlt mir jeder Bezug - wären super.
Im Bezirk Leipzig erhalten die Statthalter der CSU 10,2 Prozent der 930.000 Stimmen. Physiker Nowack, der nach eigenen Angaben „über zwei Jahrzehnte im volkseigenen Betrieb gearbeitet und jede persönliche Karriere der politischen Haltung geopfert“ hat, weiß genau, von wem die Kreuze kommen: „Die Arbeiter sind am meisten beschissen worden. Deshalb haben sie uns gewählt.“
Die Analyse scheint so verkehrt nicht. Im Zelt, getrennt von Passauer RCDS-Wahlbubis und Münchener Yuppies, stemmen etliche Arbeiter die „Einbecker“ Pilskübel. Als die DSU kurz nach 19 Uhr DDR-weit bei 6,3 Prozent liegt, stehen sie auf den Bänken. So ganz ist das Ergebnis aber noch nicht nach ihrem Geschmack.
„Immer mit der Ruhe“, sagt der Maurer Peter Schellenberg (36), „die DSU ist im Kommen.“ Er, der 22 mal in Leipzig demonstriert hat, aber Bärbel Bohley „nicht ausstehen kann“, findet, daß „die SPD zu rot unterwandert ist und mit der Einheit zu langsam macht“. Sein Kollege Volkart D. Grawe (48) sagt es schärfer: „Haut die Roten auf die Pfoten! Das wollten wir und das haben wir geschafft. Prost!“
Plötzlich ertönt Jubel. Vereinzelt begrüßen Rufer einen Toten. „Franz Josef, Franz Josef!“ Natürlich nicht Strauß, sondern DSU-Chef Hans-Wilhelm Ebeling quetscht sich zu den ZDF- und ARD-Kameras, säuselt in die Ost- und Westwohnzimmer: „Wir werden eine eigenständige Partei bleiben, freundschaftlich verbunden mit der CDU.“
Daß die Blockpartei offizielle Wahlsiegerin ist, steht zu diesem Zeitpunkt, 19.30 Uhr, fest. Daß die meisten indes nicht Lothar de Maiziere, sondern Helmut Kohl gewählt haben, ist bereits seit dem Nachmittag klar. Ob in der Innenstadt oder vor den Wahllokalen - nur des Kanzlers Name kommt den CDU-AnhängerInnen über die Lippen. „Der Helmut ist mein Freund, den verehre ich“, schwärmt die Arbeiterin und Wahlhelferin Waltraud Großer (37) vor ihrem Wahllokal im Leipziger Osten. Warum? „Na, weil der so schön reden tut. Das war doch herrlich, als Helmut am letzten Mittwoch zu uns gesprochen hat.“
Daß die Kundgebung „wunderbar“ und das CDU-Programm „schön“ sei, ist aller Orten zu vernehmen. Selten, aber doch unüberhörbar melden Allianz-Wähler Zweifel an. So gibt der Schmelzer Manfred Senn (23) zu bedenken, die wollen ja alle was Gutes, die Parteien, „ob sie es schaffen, muß sich erst rausstellen“. Doch die Bundesrepublik zeige, „daß es mit dem Helmut läuft“. Senn, dessen Eltern SPD gewählt haben, wird „das vielleicht auch mal tun, aber erst muß die Wirtschaft auf die Beine kommen, und das kann die CDU besser“.
Eine einfache Argumentation, die auch die verbitterten sozialdemokratischen Verlierer in Leipzig als wahlentscheidend ansehen. Im halbleeren „Felsenkeller“ wiegen sich Tanzpaare im Takt zu Nenas Tophit „Wunder geschehen immer wieder“.
Kein Lächeln huscht über das Gesicht des Fliegenträgers und stellvertretenden DDR-SPD-Vorsitzenden Karl August Kamilli. Bevor er einen Satz herausbringt, dreht Kamilli ausgiebig eine rote Tulpe in der Hand. „Auf den Dörfern und in den Betrieben haben wir keinen Einfluß“, so der erste große Satz, „wir haben uns selbst nicht genug dargestellt. Die Straßenkämpfer sind umgeschwenkt und haben die D-Mark gewählt.“
Was nun die SPD in Sachsen machen will? Das wissen vielleicht die Götter, Herr Kamilli jedenfalls nicht. Aber die Genossen schwören sich Treue: „Wir halten zusammen und trennen uns von allen, die in der SPD nur Karriere machen wollen“, tröstet einer den ratlosen Kamilli und spricht aus, was in der Bonner Parteizentrale hinter vorgehaltener Hand vorab kursierte: „Jetzt müssen die Schwarzen die Suppe auslöffeln und einlösen, was sie versprochen haben. Bei den Kommunalwahlen im Mai sehen wir uns wieder.“
Auf dieses Datum setzen auch viele Mitglieder und Anhänger vom Bündnis 90 im Haus der Demokratie. Zwischen Rolling Stones, Hardrock und Rotwein im neuen Cafe Video sinnieren sie ein wenig über ihre Probleme mit der Demokratie. In Leipzig, wo sie mit 3,31 Prozent etwas über dem Schnitt liegen, kämpfen die Aktivisten der ersten Stunde gleichwohl mit dem Gesamtergebnis. Lachend und doch etwas bitter läßt Uwe Schwabe vom Neuen Forum seinen Gefühlen für einen Moment freien Lauf. „Demokratie ist manchmal ganz schön schwer zu ertragen. Man soll das Volk eben nicht abstimmen lassen“, grinst Schwabe. „Aber es wird schon wieder.“
Ein Gast, der erst ins Haus der Demokratie und dann zur SPD kommen wollte, „um die Sozialdemokraten und die anderen zu trösten“, ist auf keiner der Wahlparties zu entdecken: Günter Grass.
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