: Gerät die K.u.K.-Monarchie ins Wanken?
Kandidatenfinale der Schach-WM zwischen Anatoli Karpow und Jan Timman in Kuala Lumpur ■ Von Stefan Löffler
Berlin (taz) - Anatoli Karpow war zehn Jahre lang Schachweltmeister, Garri Kasparow ist es nun auch schon ein halbes Jahrzehnt. Wenn Karpow im Kandidatenfinale in Kuala Lumpur nicht strauchelt, werden die beiden K's im Herbst ihren vierten WM-Kampf und ihre WM-Partien Nummer 121-144 spielen.
Verhindern kann das nur noch Jan Timman. Im fernen Malaysia hat der Niederländer jedoch bislang einen schweren Stand. Gleich in der ersten Partie briet ihm Anatoli eins über, wobei dem Flachländer selbst der Anzugsvorteil der weißen Steine nichts nützte. Schicke Anzüge sind seine Sache ohnehin nicht, im Gegensatz zu Karpow und Kasparow.
Zu großer Brillanz lief Karpow in der vierten Partie auf, die nach dem 61.Zug von Karpow unterbrochen und erst zu Ende gespielt wurde, nachdem die fünfte Partie ein Remis gebracht hatte. Fünfzehn Stunden lang habe er den Stand der Hängepartie direkt nach Abbruch analysiert, erzählte Karpow, seine Berater hätten gleichzeitig in einem Nebenzimmer dasselbe getan. „Es war eine der schwierigsten Positionen meiner Karriere“, sagte der Moskauer Exweltmeister, insgesamt hätten er und sein Team 45 Stunden darüber gebrütet. Es lohnte sich. Mit seinen Manövern riß Karpow das Publikum immer wieder zu Beifallsstürmen hin, und nach dem 75. Zug gab Timman die Partie, die insgesamt acht Stunden gedauert hatte, schließlich auf. Auch die folgende sechste Partie hatte Karpow schon so gut wie gewonnen, doch ein haarsträubender Fehler brachte Timman noch das Remis. Karpow führte damit in der auf zwölf Partien angesetzten Begegnung mit 4:2.
Die Experten sagen, der Abstand der Nummer drei zu den ersten beiden der Weltrangliste sei einfach zu groß. Aber die niederländischen Schachfans glauben an ihren Jan. Einige haben es sich nicht nehmen lassen, den Asientrip mitzumachen. In seinem Gefolge hat Timman auch drei Weltklasse-Großmeister, die ihm bei den Hausaufgaben helfen sollen. Ulf Andersson, Vlastimil Hort und Gyula Sax bereiten Eröffnungsvarianten vor und analysieren die Hängepartien.
Vorbild Max Euwe
Im Lande der Tulpen und Grachten ist Schach so populär wie in keinem anderen westeuropäischen Land. Es finden zahlreiche hochklassige Turniere statt, über die die Medien ausführlich berichten. Gern erinnert man sich an Max Euwe, der von 1935 bis 1937 Weltmeister war. Als Amateur besiegte das Vorbild der niederländischen Schachfreunde damals sogar das russiche Schachgenie Aljechin. Der holte sich seinen Titel jedoch zurück, nachdem er den Suff besiegt hatte.
Eine solche Schwäche hat Anatoli Karpow nicht, er spielt höchstens Tennis. Wenn es einen Spitzenspieler mit lockerem Lebenswandel gibt, dann ist es Jan Timman. Er ist in seiner Jugend nicht so systematisch aufgebaut worden wie die Stars aus der Sowjetunion und trainiert auch nicht so viel wie etwa Karpow. Die Altvorderen des Berliner Schach erinnern sich noch daran, wie Timman einmal mit Campingbus und ein paar Freunden in Berlin auftauchte, um ein Wochenendturnier zu spielen. Aber das ist fast zwanzig Jahre her.
In der malaysischen Hauptstadt könnte er nun Millionär werden. Ein Schachcomputerhersteller hat für einen westlichen Herausforderer im nächsten WM-Kampf eine Million Schweizer Franken ausgesetzt. Dafür müßte dieser vier Wochen für das Unternehmen tingeln und seinen Namen und sein Bild ein Jahr lang abtreten. Karpow kann in Malaysia nur ein steuerpflichtiges Taschengeld von 187.500 Schweizer Franken gewinnen, aber vermarkten läßt sich der Titelkampf zur Not auch mit den sowjetischen Stars. Lyon hatte die Ausrichtung des Finales zugesichert bekommen, als New York ein lukratives Angebot für diese millionenschwere Veranstaltung nachschob. Wahrscheinlich wird der Wettkampf nun zweigeteilt.
Der routinierte Exchampion Karpow gilt als schwer zu knacken, zeigte in jüngerer Zeit jedoch ungewohnte Formschwächen. Bei seinem letzten Turnier vor dem Kandidatenfinale schaffte er nur den dritten Platz hinter zwei sowjetischen Youngsters. Kasparow kann da nur müde lächeln. Bei seinen letzten Turnieren war meist nur die Frage, wie groß sein Vorsprung sein würde und wie viele Weltranglistenpunkte er holen könnte. Die Rekordmarke von Bobby Fischer, der nach Erringung der Schachkrone 1972 untertauchte und keine Turnierpartie mehr spielte, übertraf der amtierende Weltmeister bereits im letzten Herbst. Im spanischen Linares war er vor wenigen Wochen allerdings nur einen halben Punkt vor einem weiteren Nachwuchsspieler aus dem zerfallenden Reich Gorbatschows.
Es scheint, als ob die Vormachtstellung der Sowjetunion in absehbarer Zeit nur durch eins gebrochen werden kann: Litauen, Lettland, Estland, Georgien, Aserbaidschan...
Notation der 4. Partie (Karpow: weiß/Timman: schwarz): 1. d4 -Sf6, 2. c4-g6, 3. Sf3-Lg7, 4. g3-c6, 5. Lg2-d5, 6. cd5-cd5, 7. Sc3-0-0, 8. Se5-e6, 9. 0-0-Sfd7, 10. f4- Sc6, 11. Le3-f6, 12. Sd3-Sb6, 13. b3-De7, 14. a4-Ld7, 15. Lc1-Tfd8, 16. e3 Le8, 17. La3-Df7, 18. Tc1-Lf8, 19. Lf8-Df8, 20. g4-De7, 21. Dd2-Tac8, 22. Se2-Te7, 23. Tc5-Sc8, 24. f5-g5, 25. Sg3- e5, 26. Dc1-b6, 27. Tc2-e4, 28. Sf2-Sd6, 29. Dd2-Tdc8, 30. Tfc1 -a5, 31. Lf1-Sb4, 32. Tc3-Dd7, 33. Sd1-Tc6, 34. Tc6-Tc6, 35. Tc6-Dc6, 36. Sc3-Kf8, 37. Kf2-Ke7, 38. Ke1-Kf8, 39. Kd1-Dc8, 40. Ke1-Kg7, 41. Sa2-Sa2, 42. Da2-Dc7, 43. Kf2-Kf8, 44. Db3 -Ke7, 45. Le2-Kd8, 46. Ke1-Kc8, 47. Kd2-Kb7, 48. Dc1-De7, 49. Ke1-Ld7, 50. Kf2-Se8, 51. Dh1-Db4, 52. h4-Db3, 53. hg5 -fg5, 54. Dh7-Da4, 55. De7-Dc6,, 56. Dg5-a4, 57. De7-Dc6, 58. Dd6-Sd6, 59. Ld1-Lb5, 60. Se2-a3, 61. Sc1...Kc7, 62. Kg3 -Sc4, 63. Le2-Le8, 64. Kf4-Sb2, 65. Kg5-Sd3, 66. Sb3-a2, 67. Sa1-b5, 68. Ld1-b4, 69. Lb3-Sc1, 70. Ld5-Kd6, 71. Lc4-Lb5, 72. Lg8-Ke7, 73. Kh6-Kf8, 74. Le6-Ld7, 75. g5-Aufgabe Timman
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