: „...von kapitalistischen Kreditgebern abhängig“
Geheimes DDR-Papier zur Wirtschaftssituation vom September 1989 ■ D O K U M E N T A T I O N
Fünf Wirtschaftsexperten der Honecker-DDR haben im September 1989 eine „Geheime Kommandosache“ verfaßt und am 28. desselben Monats mit ihrer Unterschrift versehen - zehn Tage vor der Jubelfeier zum 40.Jahrestag der Republik. Inhalt des brisanten Papiers: Die Auslandsverschuldung der DDR und deren zukünftige Finanzierung. Ergebnis der Autoren: Die DDR ist „bereits jetzt weitgehend von kapitalistischen Wirtschaftsgebern abhängig“. Um weiter Schulden machen zu können, sei „ein wesentlich höheres Aufkommen an absatzfähiger Exportware“ erforderlich. Die notwendigen „Umverteilungsprozesse“ müßten „noch 1989/90 in Angriff genommen werden“. Als Sofortmaßnahme schlugen die fünf Experten ein Verarmungskonzept vor: die „Reduzierung der gesellschaftlichen Konsumtion und - falls das nicht ausreicht - auch der individuellen Konsumtion.„
Holger Eckermann
Wir dokumentieren im folgenden die „Geheime Kommandosache“ der DDR-Wirtschaftsexperten. Geheime Kommandosach
b5-1111/8
Berlin, 28.September 198
Entsprechend dem erteilten Auftrag haben die Genossen Schürer, Beil, Schalck, König und Polze darüber beraten, bis zu welcher Höhe die Entwicklung des „Sockels“ im Zeitraum bis 1995 als finanziell beherrschbar angesehen werden kann.Im Ergebnis dieser Beratung kommen sie zu folgender übereinstimmenden Einschätzung:
1. Die gegenwärtige Zahlungssituation der DDR im Handel mit dem NSW (Nicht-Sozialistisches Wirtschaftsgebiet, d.Red.) ist dadurch gekennzeichnet, daß wir zur Einhaltung unserer Zahlungsverpflichtungen aus Krediten und Zinsen sowie zur Durchführung jährlicher Importe bereits jetzt weitestgehend von kapitalistischen Kreditgebern abhängig sind.
Die jährliche Kreditaufnahme der DDR liegt bei 8-10 Mrd. VM (Valutamark, d.Red.). Das ist für ein Land wie die DDR eine außerordentlich hohe Summe, die bei ca. 400 Banken jeweils mobilisiert werden muß.
Kapitalistische Banken haben für ihre Kreditausreichung gegenüber sozialistischen Ländern - ebenso wie gegenüber Entwicklungsländern - Länderlimite festgelegt.
Auf Grund der bereits jetzt hohen Kreditaufnahmen sind die Banken nicht bereit, diese Limite für die DDR wesentlich zu erhöhen.
Die weitere Beschaffung von Krediten in den Jahren bis 1995 ist maßgeblich abhängig von
-der Wirkung politischer Faktoren auf die Kreditvergabebereitschaft kapitalistischer Banken und der Haltung der Regierungen solcher Länder wie Japan und der BRD, die zu den wichtigsten Kreditgebern der DDR gehören;
-der wirtschaftlichen Entwicklung der DDR, insbesondere der Außenhandelsentwicklung, der Kostenentwicklung, der Akkumulationskraft, der Geldstabilität, der Arbeitskräfteentwicklung usw.;
-der Beibehaltung relativ hoher Anlagen bei ausländischen Banken, die als Guthaben der DDR in Erscheinung treten, auch wenn es sich um Depotsiten und bereits mobilisierte, noch nicht eingesetzte Kredite handelt.
Bei Wahrung der Geheimhaltung über den Tatsächlichen Charakter dieser „Guthaben“ tragen sie ganz wesentlich zum Ansehen der DDR als solider und zuverlässiger Kreditnehmer bei.
Unter Berücksichtigung aller dargestellten und zum Teil durch uns nicht beeinflußbaren Faktoren ist die Bestimmung jährlich finanzierbarer Kredite bis 1995 nicht mit absoluter Sicherheit und Garantie möglich.
Unter der Voraussetzung, die jährliche Kreditaufnahme von 8 -10 Mrd. VM in den Jahren bis 1991 fortzusetzen - das wird aus gegenwärtiger Sicht von uns für möglich gehalten - wird eingeschätzt, daß der zu finanzierende Ausgabeüberschuß 1995 maximal 40-45 Mrd. VM betragen kann, was mit außerordentlich hohen Belastungen an Kosten und Zinsen verbunden ist.
Dabei ist jedoch unterstellt, daß alle vereinbarten und noch nicht voll in Anspruch genommenen Kredite eingesetzt, wodurch die im Ausland gegenwärtig unterhaltenen Guthaben reduziert werden.
2. Ausgehend von diesen maximalen Finanzierungsmöglichkeiten und unter Berücksichtigung des 1989 voraussichtlich eintretenden Importüberschusses von 0,2 Mrd. VM reichen die dem bisherigen Konzept zugrunde gelegten Exporte nicht aus.
Die zur Aufrechterhaltung der Zahlungsfähigkeit der DDR unabdingbar notwendigen Exporte bis 1995 betragen:- Mrd. VM
Exporte: 1989: 12,2; 1990: 14,1; 1991: 17,0; 1992: 19,5; 1993: 22,0; 1994: 23,0; 1995: 24,0
Dabei wird ab 1991 von einem im wesentlichen gleichbleibenden Import von 12,5-12,8 Mrd. VM ausgegangen
Trotz dieser hohen Exportüberschüsse entwicklen sich der „Sockel“ und die Ausgabeüberschüsse wie folgt:
1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995
Ausgabeüberschuß (Zwischenfinanzierung): 20,7 27,0 34,9 39,8 42,9 44,7 45,2
Sockel: -41,8 -47,6 -54,7 -56,6 -56,2 -55,1 -52,6
Das ist darauf zurückzuführen, daß aufgrund des hohen Standes der Verschuldung die Kosten und Zinsen für die Kredite die geplanten hohen Exportüberschüsse noch übersteigen und wie folgt anwachsen:
Kosten und Zinsen:
5,6 7,0 8,2 7,8 8,4 8,6 8,7
Es muß ausdrücklich hervorgehoben werden, daß die geforderten Exporte unter allen Umständen materiell zu untersetzen und zu realisieren sind. Jede Nichtbereitstellung der jährlich geplanten Exporte muß unmittelbar Importkürzungen in gleicher Höhe zur Folge haben. Bei dem jetzt erreichten Niveau unserer Verschuldung würde eine Unterschreitung der geforderten Exportziele unweigerlich die Zahlungsunfähigkeit bedeuten.
3. Für die weitere Arbeit am Plan 1990 und an der Konzeption für 1991-1995 bedeutet diese Forderung, daß prinzipielle Entscheidungen zur materiellen Untersetzung der tatsächlichen Bereitstellung verkaufsfähiger Exportfonds getroffen werden müssen. Nach dem gegenwärtigen Stand der Planberatungen mit den Ministern fehlen allein gegenüber den STAG 1990 noch Exportfonds von: 1,2 Mrd. VM
und es werden mehr Importe von: 1,3 Mrd. VM gefordert.
Das bedeutet, daß für ca. 12 Mrd. M volkswirtschaftliches Endprodukt zugunsten des NSW-Exports bzw. zu Lasten des Imports in den Bilanzen entschieden werden muß.
Auch der gegenwärtige Arbeitsstand der Staatlichen Plankommission mit einem Exportüberschuß von 0,5 Mrd. VM erfüllt noch nicht die für die Sicherung der Zahlungsfähigkeit gestellten Bedingungen.
Es muß davon ausgegangen werden, daß die Beratungen mit allen Ministern mit hoher Parteilichkeit und Disziplin sowie mit großem Engagement durchgeführt wurden. Weitere Beratungen mit den Ministern - ohne vorher getroffene Entscheidungen zur Veränderung der Verteilungsproportionen zugunsten von NSW-Exporten - werden das Problem nicht lösen.
4. Die Nichtbereitstellung der geforderten NSW-Exporte würde zur Zahlungsunfähigkeit führen.
Die bedingungslose Sicherung der Zahlungsfähigkeit der Republik ist die entscheidende Voraussetzung für die politische Stabilität der DDR und die weitere wirtschaftliche Entwicklung.
Eine Nichteinhaltung eingegangener Rückzahlungsverpflichtungen aus Krediten oder eine nicht termingemäße Bezahlung von Zinsen würde zur Einstellung der gesamten Kreditgewährung kapitalistischer Banken führen. Damit würden auch keine Kredite mehr für den Import der DDR zur Verfügung stehen.
Das beweist das Beispiel von Polen. Die VRPolen hat nachweislich seit Einstellung der Zahlungen 1981 keine neuen Kredite von kapitalistischen Banken mehr erhalten. Importe können nur durchgeführt werden, wenn sie aus Exporteinnahmen oder Devisenreserven bar bezahlt werden können.
Umschuldungsabkommen, wie sie früher üblich waren, gibt es nicht mehr. Seit Jahren werden Umschuldungsabkommen durch kapitalistische Banken nur noch unter Mitwirkung des IWF abgeschlossen.
Voraussetzung für eine mögliche Umschuldung ist die Einhaltung von Auflagen, die der IWF erteilt.
Diese Auflagen basieren auf Untersuchungen des IWF in den betreffenden Ländern zu Fragen der Kostenentwicklung, der Betriebsrentabilität, der Investtätigkeit, der Geldstabilität u.ä. und beziehen sich zum Beispiel auf
-den Verzicht des Staates, in die Wirtschaft einzugreifen (Beispiel Polen);
-die Einschränkung von Subventionen mit dem Ziel, sie abzuschaffen (Polen, Jugoslawien, Ungarn);
-die Freigabe von Importen aus westlichen Ländern, das heißt den Verzicht des Staates, die Importpolitik zu bestimmen.
Der Frage der Sicherung der Zahlungsfähigkeit der Republik ist deshalb unter politischem und ökonomischem Aspekt oberste Priorität einzuräumen.
5. Davon ausgehend werden folgende Prämissen für die weiteren Arbeiten am Plan 1991-1995 als unerläßlich angesehen:
a) Eine entscheidende materielle Basis unserer Produktion und damit auch der Produktion von NSW-Exportwaren sind die Rohstofflieferungen aus der UdSSR.
Die Sicherung dieser Importe setzt die konsequente Fortsetzung stabiler Außenwirtschaftbeziehungen mit der UdSSR und die Bereitstellung der zur Bezahlung der Importe erforderlichen Exporte in der notwendigen Höhe und Struktur voraus.
b) Das Erreichen der zur Sicherung der Zahlungsfähigkeit der DDR notwendigen Exporte in das NSW erfordert ein wesentlich höheres Aufkommen an absatzfähiger Exportware, wozu die erforderlichen Voraussetzungen geschaffen werden müssen. In keinem Jahr darf ein Exportplan bestätigt werden, der nicht vollständig materiell untersetzt ist. Steigerungen im NSW -Export von jährlich über 2 bis 3 Mrd. VM können nicht mit unspezifizierten Exportfonds realisiert werden und erfordern eine langfristige Bereitstellung konkreter absatzfähiger Waren.
c) Zur Bereitstellung von Exportfonds in solchen Größenordnungen sind prinzipielle wirtschaftspolitische Entscheidungen zu treffen hinsichtlich
-einer konsequenten Veränderung der Grundproportionen zwischen Akkumulation und Konsumtion zur Stärkung der Akkumulation in den produktiven Bereichen als Voraussetzung für stabile und hohe Leistungsentwicklung
-einer Reduzierung der gesellschaftlichen Konsumtion und falls das nicht ausreicht - auch der individuellen Konsumtion bei Beibehaltung einer sicheren Festlegung entsprechender Preise
-der Entwicklung der Exportstruktur in der Industrie, der Umverteilung des gesellschaftlichen Arbeitsvermögens zu Gunsten der Industrie und innerhalb der Industrie auf exportentscheidende Zweige.
Dabei wird eingeschätzt, daß zur Sicherung der notwendigen Einlaufkurve 1991 diese Umverteilungsprozesse noch 1989/90 in Angriff genommen werden müssen.
Es folgen die Unterschriften von:
Gerhard Schürer; Alexander Schalck; Werner Polze; Gerhard Beil;Herta König
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