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Stehend singt das Volk die deutschen Hymnen

Dritter Teil der taz-Olympiaserie: Eine Simulation großdeutscher Spiele mit Zitaten aus tausend Jahren / Von der Reichshauptstadt zur Frontstadt zur Bühne für eine olympisch aufgeladene, neue nationale Corporate identity  ■  Von Thomas Alkemeyer

„Berlins Prachtstraße Unter den Linden ist beherrscht von einem Flaggenschmuck reichster Ausstattung. Mehr als zehn Kilometer reihen sich immer neue Bilder aneinander. Bald kreuzen die Wimpel der Nationen die Straße, dann schlingen sich Fahnengirlanden von Baum zu Baum. Großartigkeit und Schönheit, Prunk und Pracht haben sich zu einem gigantischen Gemälde von Ton und Farbe vereint, das sich als würdiges Glied in die Reihe der ungeheuren Leistungen des deutschen Volkes einfügt. Längst sind die Straßenzüge von riesigen Menschenmassen erfüllt... Fanfarenstöße zerreißen die Stille. Das christdemokratische Staatsoberhaupt des vereinten Deutschlands, Schirmherr der Spiele, schreitet über die Stufen der Treppe, die neben dem Marathontor in den Innenraum führt. Deutschland und seine Gäste erheben sich, und ein unermeßlicher Jubelsturm braust als Gruß zum Himmel. Die deutschen Hymnen erklingen, und stehend singt das deutsche Volk in tiefer Ergriffenheit sein Lied. Der Einmarsch beginnt... Deutschland erscheint. An der Spitze leuchtet die deutsche Fahne. Der Staatspräsident tritt ans Mikrophon auf der Ehrenloge. Klar und fest steht seine Stimme im Raum: „Ich erkläre die Spiele in Berlin zur Feier der XXVII. Olympiade neuer Zeitrechnung als eröffnet‘ Hochgezüchtete Athleten umkreisen schweigend die Bahn, begleitet von mobilen Fernsehkameras, die jede Regung in den Gesichtern erfassen und sofort auf die riesigen, dreidimensionalen Bildschirme am oberen Stadionrand projizieren. Lustige Werbespots sorgen für Kurzweil...“ - So oder so ähnlich könnte es aussehen, wenn sich 2000/2004 die besten Athleten der Welt zu ihrem Stelldichein nochmals nach 1936 - von damals stammen die leicht veränderten Zitate - in Berlin treffen. Oder auch ganz anders - wer will das schon wissen.

Spritzensport oder Arbeiterolympia?

Vielleicht regiert ja 2000 noch ein rot-grüner Senat (in Gesamt-Berlin?) und versucht tapfer und aufrecht, gegen die milliardenschweren Interessen der multinationalen Wirtschaftswelt und der Fernsehkonzerne anzukommen. Vielleicht ist nationale Symbolik bis dahin aus dem olympischen Protokoll gestrichen, und es stehen nicht mehr hochdotierte Profis auf einem Treppchenpodest, sondern reine Sportsleut‘ alten Schlags egalitär auf einer Ebene wie anno dunnemals in den „Arbeiterolympiaden“. Vielleicht auch laufen in zehn Jahren keine pharmakologisch aufgepäppelten Monstren mehr ums Stadionrund, sondern wirkliche Menschen in Zeiten freilich, die weit unter den bestehenden Weltrekorden liegen -; wer weiß schon, wie sich das Fehlen eines Systemkonflikts zwischen Ost und West auf den Spitzensport auswirken wird?

Vielleicht, vielleicht, vielleicht... In der Unbestimmtheit und Vielverträglichkeit des olympischen Wertesystems liegen Chancen, aber auch Gefahren. Es ist ja durchaus denkbar, Olympische Spiele als massenwirksames Symbolsystem auch von links zu besetzen und etwas daraus zu machen, was sich nicht „von oben“ gegen die Interessen der meisten Menschen richtet. Aber Skepsis ist angebracht. Wie die politischen Verhältnisse 2000 oder 2004 - und damit auch gesellschaftliche Bedeutung und Funktion Olympischer Siele aussehen werden, das kann heute keiner sagen. Denn Olympische Spiele werden ab 1991 bereits sieben Jahre vor ihrer Durchführung an die veranstaltende Stadt vergeben.

Corporate identity

für Groß-Berlin

Gefahren liegen nicht nur im Städtebau und in der Ökologie, sondern eben auch im Bereich der Politik. Gerade in Berlin, der ehemaligen „Reichshauptstadt“, dem Austragungsort von Olympia 1936, der späteren „Frontstadt“ und dem Ort aktueller Wiedervereinigungsrufe, könnten erneute Olympische Spiele zur dankbar angenommenen Bühne für nationalistische Kräfte werden - die Gefahr des Nationalismus birgt Olmypia allenthalben, in Berlin sind sie noch potenziert. Wie eigentlich werden die Veranstalter konkret mit den „steinernen Zeugen“ des Nationalsozialismus auf dem ehemaligen „Reichssportfeld“ umgehen? Namensänderungen allein - Kuhn möchte eine Umbenennung der Reichssportfeldstraße (siehe taz vom 12.2.) - reichen wohl kaum aus. Abermals könnte eine Berliner Olympiade - den Friedensappellen zum Trotz - Symbol einer deutschen „Wiedergeburt“ werden, Zeichen gesamtdeutscher Tüchtigkeit zum Schrecken nicht allein der europäischen Nachbarn. Bei entsprechenden politischen Konstellationen wäre es ebenso denkbar, daß im ideologischen Namen einer Corporate identity Berlins abermals oppositionelle Kräfte ausgeschaltet werden

-wir kennen das, die Trennung von Berlinern und Antiberlinern... Rasch auch läßt die olympische Traumwelt entgegen ursprünglichen Intentionen - Schattenseiten der Alltagsexistenz wie Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit, schlechte Versorgungslage etc. in den Hintergrund treten.

Und selbst wenn es in der „Machbarkeitsstudie“ des Senats kategorisch heißt: „Olympiade-Aufwendungen kommen überwiegend der Stadt zugute“, könnten die ökonomischen und ökologischen Folgen Olympischer Spiele dennoch in Berlin ähnlich aussehen wie seinerzeit in München. Das bundesdeutsche NOK hat bereits „manche Zeichen der Unzulänglichkeit“ (Daume) in den Plänen des Senats entdeckt. Sein Wort wiegt gewiß schwer beim IOC, das spätestens seit dem Amtsantritt von Samaranch eine offen markt- und wachstumsorientierte Linie fährt. Das letzte Wort bezüglich der Größe und des Fassungsvermögens der Sportstätten und der Ausgestaltung des Zeremoniells haben eben nicht die Politiker, sondern die grauen Eminenzen aus IOC und NOK. NOK -Mitglied Manfred von Richthofen hat dies kürzlich mit deutlichen Worten klargestellt. Auch dagegen hätte sich ein Senat durchzusetzen.

Olympische Spiele neigen zum Riesenwuchs. Sie sind ein Kind der Wachstumsgesellschaft. Wer eine Umorientierung und kleinere Brötchen backen will, muß sich zumindest dem Problem stellen, ob er damit nicht Grundfeste des olympischen Gedankens selbst in Frage stellt. Olympische Spiele ohne Rekorde und ohne kultische Symbolik - kann es das geben? Wen interessiert es denn noch, wenn ungedopte AthletInnen in mittelmäßigen Zeiten herumrennen? Schnell würde die Wirtschaft ihr Interesse verlieren. Was herauskäme, wäre weniger ein Spektakel von professionellen Hochleistern für Zuschauer als vielmehr ein internationales Sportfest für Aktive. Das wäre sicher nicht das schlechteste, jedoch nicht mehr identisch mit Olympischen Spielen im herkömmlichen Sinn. Vielleicht gehören sie ja auf den Schrotthaufen der Geschichte.

Dahin allerdings wünscht sie sich der rot-grüne Senat gerade nicht. Er möchte weit mehr als nur ein internationales Sportlermeeting, verlangt nach großer Geste und betreibt selbst die symbolische Aufladung des Sports. Schon heute werden die voraussichtlichen Kosten auf 3,608 Milliarden DM beziffert und insgesamt 3,25 Millionen Teilnehmer erwartet.

„Friedenspiele“: 1936, 1980, 1988 - 2000/4?

Die Idee von den „Friedensspielen“ schließlich ist auch nicht so originell. Auch die Spiele von 1936 standen unter diesem Motto, ebenso wie die von 1980 in Moskau und die von Seoul: Von letzteren meinten NOK-Präsident Daume und NOK -Mitglied Thomas Bach gar, sie würden den Demokratisierungsprozeß in Südkorea beflügeln und den Abschied vom hysterischen Antikommunismus einleiten. Gigantische Sicherheitsvorkehrungen und öffentliche Antiterrorübungen im Olympiastadion aber deuteten auf das Gegenteil hin. Sie schürten die Angst vor nordkoreanischen Terroristen mehr, als daß sie zur Annäherung beider Teilstaaten beitrugen. „Die Olympischen Spiele werden der Wendepunkt zu einer ständigen Überlegenheit Seouls über Pjöngjang sein“, war damals in einer Regierungsbroschüre zu lesen. Krieg wurde gespielt, und das diente auch der Einschüchterung der inneren Opposition.

Bettler, Straßenhändler, Obdachlose raus!

Um die Selbstdarstellung eines aufstrebenden Wirtschaftswunderslandes nicht zu stören, wurden nicht nur Barackensiedlungen für Neubauten niedergewalzt, deren Mieten die Vertriebenen nicht zahlen konnten, wurde das Stadtbild nicht nur durch Achsen und rechte Winkel zerschnitten, sondern man nahm bereits im Vorfeld - als Beitrag zum inneren Frieden - Inhaftierungen vor und entfernte 4.000 Bettler und 16.000 Straßenhändler aus dem Stadtbild.

Auch die Friedenssymbolik ist letztlich nicht mehr als ein äußerst sammel- und konsensfähiges Etikett. Wie der „Frieden“ wirklich ausschaut, darüber entscheiden die aktuellen politischen Kräfteverhältnisse, die die Spiele durchziehen. Eine friedensstiftende oder völkerverbindende „Essenz“ jedenfalls kommt Olympischen Spielen nicht zu - das hat gerade die Geschichte des Neo-Olympismus bewiesen.

Der jeweilige politische Resonanzboden verändert die olympische Idee selbst. Ein „multikulturelles“, nicht von Vielfalt und Unordnung „bereinigtes“ Berlin würde tatsächlich einen anderen Inszenierungsrahmen bereitstellen als das disziplinierte und politisch gesäuberte Berlin von 1936. Und trotzdem dürfen die möglichen Tendenzen zu nationalem Größenwahn und Hauptstadttaumel nicht im Überschwang gegenwärtiger Gefühle übersehen werden. Vor Aktivismus und hektischer Planung steht - gemäß aller Vernunft - das Nachdenken und die Frage, wer eigentlich von noch so aufgefrischten Olympischen Spielen profitiert. „Berlin“ als eine Art Gesamtsubjekt auch der „Machbarkeitsstudie“ kann es nicht sein. Zu unterschiedlich sind die Standpunkte in der Stadt, zu gegensätzlich die Interessen.

Sollte aber die Durchführung Olympischer Spiele in Berlin unvermeidlich werden, dann ist es ein berechtigtes Anliegen, sie nicht dem politischen Gegner zu überlassen. Dann bedarf es Planungen in Gesamtkonzepten, die Disharmonien und Widersprüche bewußt einbauen, die ein derartiges Ereignis von vornherein als Feld für die Artikulation vieler - nicht nur unterschiedlicher, sondern auch gegensätzlicher Stimmen konstruieren. Dann muß Platz sein nicht nur für herrschende soziale, kulturelle und politische Strömungen, sondern auch für eine Gegenöffentlichkeit. Und dennoch bleibt die Gefahr ihrer Stillstellung unter einem alles verkleisternden Zuckerguß und ihrer Einbindung in bestehende Hegemoniestrukturen bestehen. Auch Diepgen mit seiner 750 -Jahr-Feier hat sich vor der internationalen Öffentlichkeit mit den „Gegenkulturen“ Kreuzbergs geschmückt.

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