: „Rambos“ übernehmen Regie in Kurdistan
In Türkisch-Kurdistan wurden praktisch alle bürgerlichen Freiheiten durch eine Kabinettsverfügung außer Kraft gesetzt / Soldaten schießen auf steinewerfende Kinder / Die Oppositionsführer Erdal Inönü und Süleyman Demirel wenden sich gegen Pressezensur und Verbannung ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren
„Mehrere Dutzend Kinder im Alter zwischen 12 und 15 Jahren hatten sich mitten in der Stadt auf das Pflaster geworfen. Die Sondereinsatzkommandos schlugen mit den Gewehrkolben auf sie ein. Kaum versuchte ich zu fotografieren, hatte ich eine M 16 am Kopf. Ein 'Rambo‘, so nennen sich die Mitglieder der Sondereinsatztruppen, entsicherte sie: 'Los fotografiere! Mal sehen, wie lange du leben wirst.'“ Der Korrespondent der angesehenen linksliberalen Tageszeitung 'Cumhuriyet‘, Fuat Kozluklu, der jüngst mit diesem Bericht aus dem Gebiet der kurdischen Intifada nach Istanbul zurückkehrte, wurde mehrfach festgenommen, mißhandelt und brutal zusammengeschlagen.
Kozluklu gehört zu den letzten Zeugen, die über die Lage in den kurdischen Städten berichten konnten: Geschlossene Rolläden, die von den „Rambos“ gewaltsam aufgebrochen werden, Soldaten, die auf steinewerfende Kinder schießen, Massenverhaftungen, „Liquidierungen“. Künftig wird nicht mehr berichtet werden.
Mit der Veröffentlichung im amtlichen Gesetzesblatt wurden die Details der Verfügung bekannt, die das türkische Kabinett Montag abend verabschiedete. Nahezu alle bürgerlichen Rechte und Freiheiten werden in den kurdischen Provinzen aufgehoben. Die Pressezensur ist lückenlos. „Publikationen, die die einheimische Bevölkerung aufregen oder die Sicherheitskräfte in Wahrnehmung ihrer Aufgaben behindern“, können verboten werden. Gegen das Verbot kann keine Verwaltungsklage eingelegt werden.
Der ohnehin mit außerordentlichen Vollmachten ausgestattete Gouverneur der betroffenen Regionen, Hayri Kozakcioglu, kann nach Belieben Bürger in die Verbannung schicken, mißliebige Staatsanwälte, Richter oder Offiziere entlassen. Weiterhin wird in der Kabinettsverfügung - die ohne parlamentarische Beratung und Abstimmung zum Gesetz erklärt wurde - dem Gouverneur zugestanden, gegen „Schließung der Arbeitsstätten“ vorzugehen. Die Schließung der Läden war eine der letzten Möglichkeiten der kurdischen Bevölkerung friedlich ihren Massenprotest gegen das Militär kundzutun.
Mittlerweile haben sich auch die Oppositionsführer Erdal Inönü und Süleyman Demirel, die zuvor in einem Spitzengespräch mit dem Staatspräsidenten und dem Ministerpräsidenten ihr Ja für eine härtere Gangart in Kurdistan gegeben hatten, zu Wort gemeldet. „Wir unterstützen nur die Maßnahmen gegen den Terror“, sagte der Sozialdemokrat Inönü, „Zensur und Verbannung aber nicht“. Auch der konservative Vorsitzende der „Partei des rechten Weges“, Süleyman Demirel, sprach sich gegen Verbannungen und Pressezensur aus.
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