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"Damit wir nicht wieder vergessen werden"

■ Interview mit Dr. Ilja Seifert (38), Literatur-Historiker, Rollstuhlfahrer, Präsident des am Wochenende neu gegründeten "Behindertenverbandes der DDR e.V."/Gegen Entmündigung und subtile ...

Am vergangenen Wochenende wurde in Ost-Berlin der „Behindertenverband der DDR e.V.“ gegründet. Bisher gab es in der DDR keine übergeordnete Interessenvertretung für Behinderte. Auf dem zweitägigen Gründungskongreß der Organisation wurde insbesondere über sich häufende Entlassungen von Behinderten geklagt. Zudem seien viele Beispiele von Kündigungen bekannt, die unter „blankem psychischem Terror gegen die Behinderten zustande gekommen“ seien. Nach jahrzehntelangem staatlich verordnetem Schweigen diskutierten die 247 Delegierten aus der gesamten DDR im Freizeitzentrum in der Wuhlheide eine Flut von Anträgen und Beiträgen zu den Themen Verkehrswesen, Städteplanung, Wohnen und Soziales. Man beschloß eine Satzung und ein Sofortprogramm, daß das Recht auf gleichberechtigte Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und auf Arbeit, Bildung und menschenwürdiges Wohnen für jeden beinhaltet. Die Übernahme des bundesdeutschen Sozialrechts wurde abgelehnt. Zum Vorsitzenden des Verbandes wurde der jetzige Vorsitzende des seit Januar bestehenden Berliner Behindertenverbandes und Volkskammerabgeordnete der PDS, Dr. Ilja Seifert, gewählt. Seifert ist einer von drei Abgeordneten der Volkskammer, die im Rollstuhl sitzen.

taz: Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Wahl. Sie haben sich ja sehr für die Gründung eines Behindertenverbandes engagiert. Warum?

Seifert: Weil ich den Verband brauche. Weil wir ihn brauchen. Zwei Tage lang debattierten wir miteinander. Es gab Mißtrauen und Mißverständnisse, Anträge und Aufträge, laute Worte und Entschuldigungen, vor allem aber gab es das ernsthafte Streben nach Ergebnissen.

Außer den ganz spezifisch orientierten Verbänden für Blinde, Gehörlose und dem Versehrtensportverband (die übrigens bisher nicht die Absicht haben, unter unser Dach zu kommen), gab es bisher einfach keine Vereinigung, die die Interessen von Behinderten und Betroffenen vertreten hat. In der DDR lebt aber mindestens jeder zehnte Mensch mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung. Es war einfach notwendig, so schnell wie möglich eine Organisation zu schaffen, die die Erfordernisse und Bedingungen für ein selbstbestimmtes menschenwürdiges Leben artikulieren und auch gesellschaftliche einfordern kann, damit wir nicht wieder vergessen werden.

Wie kam es zur Gründung, und wie war die Situation von Menschen mit Behinderung in der DDR?

Bereits in den ersten Tagen der öffentlichen Volksbewegung vergangenen Herbst waren es Menschen mit Behinderung, die auf jahrzehntelange Mißstände lautstark aufmerksam machten. Spontan bildeten sich damals Initiativgruppen zur Bildung eines Behindertenverbandes. Seit 13. Januar gibt es den Berliner Behindertenverband. Die Idee, einen Behindertenverband zu gründen, gab es schon seit Jahren. Das Thema Behinderung war in der sozialistischen Öffentlichkeit tabuisiert. Die Menschen mit Behinderung waren entmündigt und bevormundet. Sie gehörten zu den Randgruppen, denen es auch wirtschaftlich besonders schlecht ergangen ist. Sie hatten keine eigene Zeitung. Sie wurden im gesellschaftlichen Leben durch Bürokratie, Verkehrswesen, Städteplanung usw. eher ausgegrenzt als integriert. Daß die DDR auch kein „behindertengerechtes“ Land war, zeigt sich auch daran, wie schwierig es war, einen entprechenden Veranstaltungsort für unseren Kongreß zu finden. Das Freizeit- und Erholungsheim (ehem. Pionierpalast) mußte erst rollstuhlgerecht umgebaut werden.

Was sind jetzt die wichtigsten Aufgaben?

Wir haben ein Sofortprogramm beschlossen. Darin setzen wir folgende Schwerpunkte: zunächst den Aufbau von Basisgruppen in den einzelnen Ländern bzw. Bezirken nach föderalistischen Prinzipien. Dann das Recht auf gleichberechtigte Teilnahme am gesamtgesellschaftlichen Leben. Wir sind gegen die Übernahme eines Sozialrechts nach bundesdeutschem Vorbild. Dritte Forderung: Arbeit für jeden. Mit Hilfe der Medien und durch eigene Öffentlichkeitsarbeit werden wir auf die Lebens - und Arbeitssituation von Menschen mit Behinderung aufmerksam machen. Sie sind die ersten Betroffenen des beginnenden Sozialabbaus. Wir werden uns gegen die marktwirtschaftliche Wegrationalisierung geschützter Arbeitsplätze und Werkstätten wehren. Viertens: Bildung für jeden. Der Verband trägt besondere Verantwortung für Kinder mit Behinderung und erwachsene geistig Behinderte. Förderung und Integration statt „Befürsorgung“. Fünftens: menschenwürdiges Wohnen.

Wie finanzieren Sie sich? Welche Partner gibt es?

Die materielle und finanzielle Sicherung erfolgt durch Mitgliedsbeiträge, aus öffentlichen Mitteln sowie durch eigene Leistungen. Wir sind auf jeden Fall auch auf Spenden, Stiftungen usw. angewiesen. In Vorbereitung unseres Gründungskongresses habe wir große Unterstützung vom Gewerkschaftsbund FDGB bekommen. Es bestehen Kontakte zu den großen Behindertenverbänden in der Bundesrepublik. Wir arbeiten eng mit den Basisgruppen zusammen, z.B. dem Spontanzusammenschluß Mobilitär für Behindete aus West -Berlin.

Interview: Eike Sanders

BV Berlin e.V. Berliner Stadtkontor 6651-50-30010; BV der DDR e.V. Berliner Stadtkontor 6651-57-30850

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