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Kopf-an-Kopf-Rennen ohne Biß

■ Niedersachsen-Wahl vom 13. Mai entscheidet auch über Mehrheiten in Bonn / Von J. Voges

Bei den Landtagswahlen in Niedersachsen am 13. Mai geht es um mehr als nur die Ablösung von Ernst Albrecht. Die Wähler entscheiden auch über die Mehrheit im Bundesrat. Sie entscheiden, ob CDU und FDP die deutsch-deutsche Einigung im Alleingang durchziehen können oder für die nötigen Gesetzespakete auf die Zustimmung der Bundes-SPD angewiesen sind. Darüber hinaus steht in Niedersachsen die Alternative Renaissance für rot-grün oder ein Absinken der Grünen zur Bedeutungslosigkeit zur Wahl.

„Jetzt ist noch einmal Musik geplant, und dann komme ich“, ruft Gerhard Schröder den 200 Zuhörern im Dorfgemeinschaftshaus von Wiensen zu. Der Posaunenchor Schönhagen spielt ein weiteres Marsch-Pottpourri. Von der Theke in einer Ecke des auch als Turnhalle dienenden Saales wird Bier zu den papiergedeckten Tischen getragen, an denen überwiegend Männer im Alter von über 45 Jahren sitzen. So richtige Volksfeststimmung will aber nicht aufkommen bei diesem SPD-Wahlkampfauftakt für die südniedersächsische Kleinstadt Uslar, obwohl hier im Solling traditionell mehrheitlich SPD gewählt wird. Der SPD-Spitzenkandidat Schröder ist kein Rhetoriker, der Begeisterungstürme auslöst: „Wir wollen jetzt ernsthaft miteinander über Politik reden“, beginnt er seinen Wahlkampfauftritt. Dem gelernten Strafverteidiger, der aus einfachen Verhältnissen stammt, dem Ausbildung und Karriere nicht geschenkt wurden, liegt eher die Rolle des Anwalts der kleinen Leute: „Die deutsche Einheit kommt. Jetzt müssen wir dafür sorgen, daß nicht die Millionäre daran verdienen und die Millionen Menschen dafür bezahlen.“ Dafür bekommt er einen ordentlichen Beifall.

Der Begriff „Soziale Demokratie“ findet sich auf allen Wahlkampfplakaten der SPD. Und auch der Wahlkämpfer Schröder setzt ganz auf die höhere Kompetenz in sozialen Fragen, die seine Partei in den Augen der Wähler besitzt. Daß die CDU „einen doppelten Wählerbetrug“ plant, gehört zu den Standardwendungen seiner Wahlkampfreden. „Den Leuten in der DDR hat die CDU versprochen: Ihr bekommt alles. Und hier verspricht sie: Das kostet alles nichts“, spricht Schröder vor den älterern Herren in Wiensen. Der SPD-Kandidat macht seine Gegenrechnung auf: Die deutsche Einheit müsse man durch Verzicht auf die Unternehmenssteuerreform, Verzicht auf den Jäger 90, durch weitere einschneidende Einsparungen im Verteidigungshaushalt und über die Bundesbankgewinne finanzieren. 40 bis 50 Milliarden pro Jahr könne der Bund auf solche Weise für die DDR aufbringen. „Die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen dürfen sich jetzt nicht unterbuttern oder wegen der DDR ein schlechtes Gewissen einreden lassen“, appelliert der Kandidat an seine Zuhörer.

Der für das biedere Publikum fast kämpferische Appell ist etwas mehr als bloße Wahlkampfrhetorik. Der ehemalige SPD -Linke ist in seinem Element, kommt auch beim Publikum an. Am 13. Mai wird in Niedersachsen auch über die Mehrheit im Bundesrat entschieden. „Nur über den Bundesrat kann die SPD Einfluß auf die Gestaltung der deutschen Einheit nehmen“, so Schröder später. Zwar habe das Länderparlament keinen Einfluß auf die Frage, ob die Einigung nach Artikel 23 des Grundgesetzes oder nach dem von ihm klar favorisierten Artikel 146 vollzogen werde. Doch seien die Gesetze zustimmungspflichtig, die die finanziellen und die sozialen Folgen der deutschen Einigung regeln. Nach Schröders Ansicht hat die SPD bei ihren Bemühungen um Einfluß auf die Einigung „zu sehr auf die DDR-Wahl am 18. März gesetzt“.

Die Abstimmung in Niedersachsen ist damit eine Schlüsselwahl, vorentscheidend auch für die Mehrheitsverhältnisse im Bund. Auch wenn Oskar Lafontaine kürzlich in Hannover ausdrücklich seine Chancen bei der Bundestagswahl nicht mit dem Ergebnis der SPD in Niedersachsen verknüpfen wollte. Auf jeden Fall entschieden wird am 13. Mai über die politische Zukunft des Gerhard Schröder. Der ehemalige Juso-Bundesvorsitzende tritt zum zweiten Mal als Spitzenkandidat in Niedersachsen an. Schon nach der Landtagswahl 1986 fehlte nur noch ein Parlamentssitz an einer rot-grünen Mehrheit in Niedersachsen. Wenn Schröder im Mai Ernst Albrecht nicht als Ministerpräsident ablöst, wäre seine Karriere in Niedersachsen beendet: einen dritten Anlauf würde er von sich aus nicht unternehmen. Mal abgesehen davon, daß die Parteirechten in der niedersächsischen SPD dies auch nicht zulassen würden.

Vorsprung dahin

„Die SPD muß am 13. Mai stärkste Partei werden, so daß ohne uns in Niedersachsen nicht mehr regiert werden kann“, lautet Schröders Wahlziel. Wenn die SPD dieses Ziel erreicht, will er anschließend „mit beiden möglichen Koalitionspartner, den Grünen und der FDP, wirklich gleichberechtigt über die Regierungsbildung reden“. Der SPD-Spitzenkandidat hat aus seinem Ehrgeiz nie einen Hehl gemacht. Um so schmerzlicher ist es für ihn, daß der noch vor einem Jahr scheinbar sichere Sieg über Ernst Albrecht jetzt wieder in Frage steht. Bei der Europawahl im vergangenen Juni erreichte die niedersächsische CDU nicht einmal 36 Prozent, die SPD dagegen 42. Zusammen mit den 8,4 Prozent der Grünen ergab sich für Rot-Grün ein Vorsprung vor der CDU/FDP-Koalition von fast 9 Prozent.

Jüngsten Umfragen zufolge ist in Niedersachsen allerdings wieder alles offen: Schon Anfang März sah eine von der CDU in Auftrag gegebene Emnid-Umfrage die Oppositionsparteien nur noch gleichauf mit Albrechts Regierungskoalition. Eine für die hannoversche 'Neue Presse‘ durchgeführte Befragung der Wähler am Tag nach der DDR-Wahl erbrachte sogar eine Mehrheit für CDU und FDP. Die letzte Meinungsumfrage von Infratest im Auftrag der SPD prophezeite den Sozialdemokraten dann wieder drei Prozent Vorsprung. Das wichstigste Ergebnis dieser Umfrage lautete jedoch: 40 Prozent der Niedersachsen, doppelt soviel wie gewöhnlich, hätten sich sechs Wochen vor dem Wahltermin noch nicht entschieden.

Das bei Skandalen kurze Gedächtnis der Wähler, das Absinken der niedersächsischen Republikaner zur Bedeutungslosigkeit, und natürlich der deutsch-deutsch bedingte allgemeine Aufwärtstrend der CDU haben dem vor Jahresfrist schon abgeschriebenen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht wieder Möglichkeiten zum Machterhalt eröffnet. Die Chance der Oppositionsparteien liegt darin, daß mit dem näherrückenden Wahltermin eben doch landespolitische Themen wieder eine größere Rolle spielen.

Auch mit der Kür Rita Süssmuths zur Nachfolgerin hat Ernst Albrecht erstmal nur eine paradoxe Wahlkampfsitutiation geschaffen: Vor zwei Jahren hatte Albrecht nach eigenem Bekunden vor, sein Amt aufzugeben. Er wollte aber nicht inmitten der niedersächsischen Skandale das Handtuch werfen. Inzwischen hat der einst amtsmüde Regierungchef auch aufgrund der interessanten deutsch-deutschen Entwicklung die Lust am Regieren wiedergefunden. Doch jetzt muß er eine Nachfolgerin präsentieren, seinen Rückzug aus dem Amt in Aussicht stellen, um überhaupt weiter regieren zu können. Rita Süssmuth indessen hat sich wieder als Bundestagskandidatin aufstellen lassen. Auf einen Termin für ihren als ersten Schritt angekündigten Eintritt als Sozialministerin in ein zukünftiges Albrecht-Kabinett will sie sich nicht festlegen. Zu welchen Zeitpunkt sie Nachfolgerin von Ernst Albrecht werden soll, steht ohnehin in den Sternen. „In einigen Jahren“ soll nach den Worten Albrechts dieser Wechsel stattfinden - das kann auch am Ende der kommenden Legislaturperiode im Jahre 1994 sein.

Schwerpunkt Bildungspolitik

Bei den landespolitischen Themen legt Gerhard Schröder den Schwerpunkt auf die Bildungspolitik. Er verspricht endlich auch für Niedersachsen als letztes Bundesland kostenlose Schulbücher, die Lernmittelfreiheit, kündigt 5.000 Lehrereinstellungen an, um den Unterrichtsausfall zu beseitigen und will „den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz“ auch in Niedersachsen einführen, wo immer noch vier von zehn Kindern bei der Vergabe der Plätze leer ausgehen. Dem Dringlichkeitsprogramm der niedersächsischen SPD zufolge wären diese und eine Reihe weiterer Sofortmaßnahmen allein aus den Steuermehreinnahmen des Landes finanzierbar - allerdings nur, wenn der Bund nicht die Länder für die DDR-Hilfe zur Kasse bittet. Erstaunlicherweise sind es auf Wahlverstaltungen, wie die im Dorfgemeinschafthaus in Wiensen, gerade diese konkreten landespolitischen Themen, die das größte Interesse finden.

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