: Verführung Minderjähriger
■ Jorge Polacos Film „Kindergarten“ - ein Zensurfall in Argentinien
Als „ungewöhnliche Allianz zwischen den Alten, den Kindern und den Verrückten“ war der dritte Film des argentinischen Regisseurs Jorge Polacos angekündigt worden: Kindergarten („jardin de infantes“). Eine ungewöhnliche Allianz war es sicher zwischen dem anarchischen Künstler und der Produktionsgesellschaft „Sono Film“, die sonst eher seichte Produkte vermarktet. Kindergarten handelt - so Polaco - „vom Makabren und von den Kinderphantasien, von Märchen, Erotik, Nekrophilie und löst sich in Bereichen auf, wo sich das Reale mit der Wunderwelt vermischt, die Perversion mit dem Genuß, die Wachheit mit dem Traum“.
Der Traum fand ein abruptes Ende, als am 11. August 1989 im Sono-Büro eine Kopie des Kindergartens beschlagnahmt wurde, und zwar aufgrund einer Strafanzeige eines gewissen Patricio Vergara, der nach eigenem Bekunden den Film nicht einmal persönlich gesehen hatte. Sein Freund Alberto Ricciardi, Kirchenvertreter der Bewertungskommission des Film-Instituts, hatte ihm gegenüber empört von einer „Verführung von Minderjährigen vor laufenden Kamaras“ berichtet.
Stein des Anstoßes waren besonders folgende Szenen: 1. Luisa liegt im Bett, an ihrer Seite schläft ein Junge. Graciela hebt die Decke hoch und schaut auf die Erektion des Kindes. 2. Nachdem Arturo mit seiner Geliebten geschlafen hat, bewirft er das Kind, das hinter einer spanischen Wand Zeuge des Liebesaktes geworden war, mit Bananen. 3. Während das Kind in der Badewanne hockt, nähert sich Graciela, knöpft sich das Negligee auf, steigt ins Wasser und beginnt, an dem Jungen herumzufummeln. Der ärgert sich schließlich, droht, alles dem Vater zu erzählen, und verläßt die Wanne. Graciela bleibt alleine drin liegen und spielt mit dem Schaum. 4. Der Junge kriecht unter den Rock von Luisa, sie zieht ihn hervor und verdrischt den Nackedei brutal mit einem Stock.
Mit diesen Szenen sah der katholische Zensor die Werte des christlichen Abendlandes in Gefahr: „Minderjährige mit nackten Frauen, der Liebesakt mitten in einem Kindergeburtstag, Kinder die im Park mit ihren nackten Lehrerinnen spielen, sind für Erwachsene aggressive Szenen und schädigen die moralische Entwicklung des Kindes, das bei diesen Szenen mitgewirkt hat.“
In der Folge entspann sich ein Gutachterstreit über die Frage, welche Schäden die kindlichen Schauspieler genommen haben. Drei Psychologen bestätigten für die Zensur „sexuellen Mißbrauch während der Aufnahmen“, die Sexologen der Künstler sprachen dagegen von einem „harmlosen Spiel“ und der „Normalität nackter Körper“. Der zuständige Richter gab letzteren recht, Kindergarten wurde mit dem Zusatz „ab 18 Jahren“ versehen und freigegeben.
Aber bevor es zur Premiere kam, wurde das Strafverfahren wegen Verführung Minderjähriger von einem anderen Richter noch einmal aufgerollt. Dieser beschlagnahmte das Filmmaterial, das Negativ, sämtliche Kassetten und Kopien. Die Kopie, die im Februar auf dem Filmmarkt der Berlinale lief, war nach Auskunft des Regisseurs die letzte, die ihm zur Verfügung stand. Nun drohen ihm, der Schauspielerin Graciela Borges und anderen Gefängnisstrafen bis zu vier Jahren, den Eltern der beiden Kinder wurde bereits das Fürsorgerecht entzogen.
In Argentinien war Kindergarten bisher nirgendwo zu sehen, nur einmal wurde er im Nachbarland Uruguay im Nobelbadeort Punta del Este der Schickeria vorgeführt. Unklar ist auch, ob es einem bundesdeutschen oder anderen ausländischen Filmverleih, Festival oder Kino möglich ist, den Film zu Vorführung aus Argentinien freizubekommen.
Gaby Weber/chp
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen