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Garmischer Altenheim im Zwielicht

Dritter Altenheimskandal im Wintersportort Garmisch / Erneut Klagen über Mißhandlungen, unkontrollierten Umgang mit Psychopharmaka und krasse personelle Unterversorgung / Behörde weiß von nichts  ■  Von Bernd Siegler

Nürnberg (taz) - Bundesdeutsche SeniorInnen bevorzugen das oberbayerische Garmisch-Partenkirchen als Ruhesitz. Doch gerade die dort ansässigen privaten Altenheime kommen aus den Schlagzeilen nicht heraus. Nachdem im Juli letzten Jahres eine Heimleiterin u. a. wegen Verdachts der Freiheitsberaubung und Mißhandlung Schutzbefohlener festgenommen worden war und im Januar dieses Jahres einer anderen Heimleiterin die Konzession wegen gravierender Mißstände entzogen wurde, gibt es jetzt einen neuen Skandal: die Zustände im „Haus Bellevue“.

Im „Bellevue“ verbringen 42 SeniorInnen ihren Lebensabend, die meisten sind Pflegefälle, einige gar Schwerstfälle. 4.000 DM müssen die Alten im Monat bezahlen, das ist für den Kurort ein durchschnittlicher Preis. Obwohl Garmisch -Partenkirchen damit eines der teuersten Pflaster der Republik ist, hat die Gemeinde den proportional höchsten Altenanteil in der Bundesrepublik. Ein kommunales Altenheim gibt es hier nicht, dafür aber zehn private.

Im „Bellevue“ sind für 42 Senioren nur fünf Pflegekräfte eingestellt, die zudem Putzdienste verrichten müssen. Der Soll-Schlüssel in Bayern sieht einen Pfleger für 3,5 SeniorInnen vor, gerechnet auf einen 24-Stunden-Tag und die 7-Tage-Woche, d. h. real nach Schicht gerechnet etwa ein Verhältnis von 1:1. Wegen des krassen Personalmangels ist im Haus „Bellevue“ um 16.00 Uhr Bettruhe, ab 18.00 Uhr ist eine Hilfspflegekraft als Nachtwache für alle 42 Insassen zuständig. Psychosoziale Betreuung und Aufenthalt im Freien sind für die „Bellevue„-BewohnerInnen Fremdwörter. Der „Giftschrank“ ist für jedermann frei zugänglich, eine Kontrolle über die entnommenen Neuroleptika gibt es nicht. Nach Angaben eines ehemaligen Mitarbeiters findet im Haus ein schwunghafter Handel mit Psychopharmaka statt. Für zwölf PatientInnen ist ärztlicherseits eine Diät vorgeschrieben, doch keiner von ihnen bekommt die Schonkost. Manche SeniorInnen bleiben über Tage hinweg eingesperrt in ihren Zimmern, ans Bett oder an den Stuhl festgebunden, manche werden geschlagen. PatientInnen, die Urin und Stuhl nicht zurückhalten können, werden in ihren eingekoteten Windeln liegengelassen, um Windeln zu sparen. Wundliege-Geschwüre sind die Folge.

Nach Informationen von Colin Goldner, der als Leiter der örtlichen Altenpflegeschule Ende März geschaßt worden war, nachdem er die Zustände in zwei Altenheimen an die Öffentlichkeit gebracht hatte, sind bereits Klagen bei den zuständigen Behörden vorgetragen worden. Davon weiß Michael Urek, Leiter der Abteilung für Gesundheitswesen und Gewerberecht im Landratsamt von Garmisch-Partenkirchen, nichts. Er hatte eigentlich den Eindruck, daß sich die Lage in den örtlichen Altenheimen nach den vergangenen Skandalen gebessert hätte. Doch die negativen Schlagzeilen hatten bislang nur wenig Konsequenzen. Neun Monate nach Verhaftung der Leiterin des Altenheims „St. Martin“ hat die Staatsanwaltschaft noch nicht einmal Anklage erhoben. Gertrude R. ist längst wieder auf freiem Fuß. Über Nacht wurde die Heimleiterin des „Hauses Tusculum“, Svetlana A., der vom Landratsamt wegen mangelhafter Betreuung und ungenügender medizinischer Kenntnis des Pflegpersonals die Konzession entzogen worden war, durch eine neue Leiterin ersetzt. An den Zuständen, so Goldner, habe sich jedoch nichts geändert.

Für Goldner sind die Vorkommnisse in Garmisch-Partenkirchen keine Einzelfälle. „Das hat System, das ist kein Phänomen von Garmisch, sondern die Normalität, wie in unserer Gesellschaft mit alten Menschen umgegangen wird.“ Indirekt bestätigt das auch Michael Urek: „Bei uns fällt das nur mehr auf, da wir in Garmisch eine große Massierung von Altenheimen haben.“

(Eine Dokumentation über die bisherigen Vorfälle im Garmisch ist erhältlich beim „Forum für kritische Gerontologie“, Postf. 800121, 8 München 80)

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