Neue Deutschlandpolitik - oder: Wie lange können SPD und Grüne Kohl noch ertragen?

■ Streitgespräch zwischen Antje Vollmer, Fraktionssprecherin der Grünen, und dem Parteivorsitzenden der SPD, Hans-Jochen Vogel, über den Zustand der Opposition angesichts des rasanten Tempos des deutsch-deutschen Einigungsprozesses / Die ungewisse Zukunft von Rot-Grün / Vollmer: „Will die SPD überhaupt einen Politik- und Generationswechsel in Bonn?

taz: Vor einem dreiviertel Jahr trafen sich auf Schloß Crottdorf heimlich Grüne Politiker und Sozialdemokraten zu Gesprächen. Das politische Klima damals: Man hoffte auf neue Mehrheiten. Frau Vollmer sagte gar im Bundestag, Kohl habe die Mehrheit längst verloren, sei quasi schon abgewählt. Dann kam der Herbst, die Wende in der DDR, die Maueröffnung. Heute hat sich das politische Klima völlig verändert - aus der Schwäche der Opposition scheint Kohl seine Stärke zu beziehen. Wie sehen Sie sich selbst als Oppositionspartei im Unterschied zu vor einem dreiviertel Jahr?

Hans-Jochen Vogel: Diese damalige Unterhaltung außerhalb Bonns wird von Ihnen jetzt in einer sensationellen und deshalb übertriebenen Weise dargestellt. Richtig ist, daß die Außen- und Sicherheitspolitiker unserer Fraktion mit allen Parteien, Fraktionen des Bundestags Gespräche geführt haben.

Auch Ihren Ausführungen über die angebliche Stärke des Herrn Kohl und die angebliche Schwäche der Opposition kann ich nicht zustimmen. Richtig ist, daß die Union mit Hilfe der Parole „ohne Kohl keine Kohle“ am 18.März in der DDR ein sehr günstiges Ergebnis erreicht hat; ein Ergebnis, das für unsere Schwesterpartei enttäuschend war. Aber Sie machen einen großen Fehler, wenn Sie das Verhalten der Wähler in der DDR unter ganz besonderen Umständen - und ich kritisiere das Verhalten der Wähler gar nicht - einfach in die Zukunft verlängern oder gar auf die Bundesrepublik übertragen. Wir hatten seit dem 18.März in der Bundesrepublik bereits wieder mehrere Wahlen: etwa die Kommunalwahlen in Schleswig -Holstein, da hat die CDU 2,9 Prozent verloren, und wir sind damit auch auf lokaler Ebene in Schleswig-Holstein die Partei Nummer Eins. Noch interessanter ist das bayerische Ergebnis. Wenn die CSU 7,2 Prozent verliert und mit knapp 42 oder noch weniger Prozenten aus der Wahl hervorgeht, und wenn sie mehrere Dutzend Bürgermeister und Bürgermeisterinnen an uns verliert, dann steht das doch im Widerspruch zu dem, was Sie sagen.

Was die deutsch-deutsche Entwicklung angeht, so werden schon die nächsten Monate zeigen, daß unsere Linie einer Einigung im Wege der Verhandlung, im Wege der Vereinigung von gleichberechtigten Partnern unter Wahrung sozialer Gesichtspunkte der bessere Weg ist. Die Regierungserklärung von de Maiziere zeigt, daß man dies offenbar auch in der DDR ähnlich sieht. Und Herr Kohl wird mit den Erwartungen, die er in beiden deutschen Staaten geweckt hat und die einander widersprechen, noch ganz erhebliche Probleme bekommen.

taz: Frau Vollmer, teilen Sie diese positive Einschätzung der Lage der Opposition? Oder geht es Ihnen eher so, daß trotz aller Freude über das Ende des SED-Staates und den Fall der Mauer der Eindruck vorherrscht, die Zeiten für die demokratisch ökologische Opposition hätten sich verschlechtert?

Antje Vollmer: Ich bin tatsächlich der Meinung, daß es im letzten Jahr eine gesellschaftliche Mehrheit für einen Politikwechsel gegeben hat. Und zwar aus zwei Gründen. Zum einen wegen des Themenwechsels, zum anderen wegen des notwendigen Generationenwechsels in der Politik. Schon damals deutete sich an, daß die neuen Ideen, die die Zukunft bestimmen werden, in Osteuropa so stark geworden waren - die Ökologiefrage, die Demokratiefrage, die Bürgerrechtsfrage -, daß die Zentren der politischen Macht mit wirklichen Trägern dieser Ideen besetzt wurden. Dieser Wechsel stand bei uns eigentlich auch auf der Tagesordnung. Und zu den identischen Vertretern dieser Politik hätte ein rot-grünes Bündnis gehört. Die Existenz dieser anderen Mehrheit war übrigens noch spürbar bei dieser großen Veranstaltung am Schöneberger Rathaus, bei der Willy Brandt und Genscher bejubelt wurden und Helmut Kohl bei der Nationalhymne keine Mitsinger fand. Selbst da gelang es nicht, die neuen Verhältnisse in einem klassisch konservativen Muster nationalistisch zu besetzen. Was ist dann passiert, daß sich diese Stimmung nicht in Wahlergebnissen ausgedrückt hat?

Da setzt meine Kritik an der SPD an, insbesondere an der Politik von Willy Brandt in dieser Zeit. Der Versuch der SPD, die nationale Frage zu besetzen, darauf basierend, daß die klassischen Zentren der Arbeiterbewegung in der DDR lagen, ist machtpolitisch fehlgeschlagen. Der Berliner Parteitag im Dezember vertrat noch die Konföderation als politische Alternative zum schnellen Einigungsprozeß. Ich bin bis heute nicht sicher, ob man damit bei der DDR-Wahl Mehrheiten hätte gewinnen können, aber ich glaube, es wäre historisch notwendig und intelligenter gewesen, in dieser Situation die öffentliche Meinung aufzuteilen und als Opposition aufzutreten. Das faktische Herstellen einer 90prozentigen Wiedervereinigungspartei, noch unterstützt dadurch, daß kritische Medien wie der 'Spiegel‘ auf diesen Kurs so massiv einstiegen, fand ich katastrophal. Das Land war ohne Opposition. In dieser Situation die Alternative allein zu tragen, das hat die Grünen tatsächlich überfordert.

Hans-Jochen Vogel: Die Kritik an Willy Brandt kann ich in keiner Weise akzeptieren. Er ist kein Nationalist...

Antje Vollmer: Das habe ich auch nie behauptet.

Hans-Jochen Vogel: ... Ihm gerade geht es um die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts, für das er und die deutsche Sozialdemokratie seit eh und je eingetreten sind. Im Übrigen übertragen Sie jetzt Enttäuschungen, die Sie bei den Grünen erlebt haben, auf die Sozialdemokraten. Tatsache ist, daß Ihre Fraktion und Ihre Partei auf die deutschlandpolitische Entwicklung überhaupt keine Antwort hatte. Erst jetzt in Hagen haben Sie mit einiger Mühe eine Position formuliert, die ja mit Konföderation auch nichts mehr zu tun hat. Unsere Antwort auf die deutschlandpolitische Entwicklung stimmt mit unseren grundsätzlichen Positionen völlig überein. Wir haben die Einheit der Nation nie aufgegeben. Allerdings haben wir mit längeren zeitlichen Perspektiven gerechnet. Wie alle anderen hat uns die Dynamik der Entwicklung überrascht.

Was den angeblichen Themenwechsel angeht, sind Sie mir zu pessimistisch. Die ökologische Frage steht unverändert ganz weit oben auf der Tagesordnung. In der DDR ist ja nach allem, was wir jetzt wissen, die Umweltfrage noch viel brennender als bei uns. Es hängt von unserer Vernunft ab, ob jetzt in der DDR eine Phase ungehemmten Manchester -Kapitalismus‘ ausbricht oder ob wir den Menschen in der DDR mit sozialer und ökologischer Verantwortung zu den Lebensverhältnissen verhelfen, auf die sie ebenso Anspruch haben wie wir. Die Chancen zu einem ökologischen Durchbruch

-auch bei uns - sind meines Erachtens nicht kleiner, sondern größer geworden.

Antje Vollmer: Die SPD ist angetreten, die soziale Absicherung des Einigungsprozesses zu gewährleisten. Unter gesamtdeutschen Aspekten wird folgender Widerspruch entstehen: De Maiziere hat gesagt, Teilung geht nur durch Teilen. Das wird bei uns zunehmend als eine Verschärfung der sozialen Fragen hier verstanden. D.h. die beiden gesellschaftlichen Gruppen, die die SPD aus Tradition vertreten will, also die von Benachteiligung bedrohten BürgerInnen der DDR und die, auf deren Kosten das hier in der Bundesrepublik abgewälzt werden soll, die stehen in einem klaren Interessengegensatz. Darin liegt innenpolitischer Sprengstoff, auch für rechtsradikale Entwicklungen. Wenn man es nicht dazu kommen lassen will, dann muß man auf die Urerfahrung der SPD setzen, nämlich solche gefährlichen Interessengegensätze durch Wachstum zu beseitigen, damit auch die Ärmsten noch etwas davon mitbekommen. Das ist dann aber ein Grundkonflikt zur Ökologiefrage. Weil die Ökologiefrage dieses kapitalistische Wachstumsmodell nicht mehr zuläßt - das ist ja gerade unser Ausgangspunkt.

Hans-Jochen Vogel: Das ist ein schwieriges Problem. Aber für das, was jetzt an Hilfeleistungen nötig ist, gibt es zunächst einmal die Steuermehreinnahmen.

Antje Vollmer: Die sind Folge des Wachstumsmodells...

Hans-Jochen Vogel: Sie sind zunächst einmal da. Auch ihre Fraktion hat nicht vorgeschlagen, das Geld zu vernichten. Also hier haben wir eine gewisse Reserve. Dann hat die Bundesbank 10 Milliarden Gewinn - das ist mehr - überwiesen als veranschlagt. Des weiteren gibt es die Ankündigung des Bundeskanzlers, daß er ab 1991 die Steuern für die Hochverdienenden und die Unternehmen um 25 Milliarden jährlich senken will. Das lehnen wir entschieden ab. Schließlich sind jetzt die Einsparungen im Verteidigungshaushalt überfällig, die wir schon seit langem fordern. Mit alldem läßt sich schon einiges machen. Außerdem wird sich die Finanzkraft der DDR in nicht allzu ferner Zeit so verbessern, daß die DDR selbst zur Lösung ihrer ökologischen Probleme entschiedenere Anstrengungen unternehmen kann.

taz: Erst einmal werden sich Wachstumskoalitionen bilden in der DDR, und das strahlt in die Bundesrepublik - ob wir das wollen oder nicht -, insofern gab es seit der Maueröffnung einen Themenwechsel weg von der Ökologie hin zum Wachstum.

Hans-Jochen Vogel: Einspruch. Die Wachstumsdiskussion ist für mich kein Neuland. Wenn einer sich zu diesen Dingen früh und intensiv geäußert hat, dann war ich das - lange bevor es die Grünen überhaupt gab. Außerdem kann man doch den Menschen in der DDR nicht vorwerfen, daß sie ihren Lebensstandard verbesseren wollen. Wenn die Leute mit gleicher Anstrengung ungefähr ein Drittel unserer Lebensqualität erreichen, dann ist es eine Frage der sozialen Gerechtigkeit und der Solidarität, daß wir ihnen helfen, auf die Beine zu kommen.

Antje Vollmer: Wenn das alles so schnell passiert, wird man sicher um das Wachstumsmodell gar nicht herumkommen. Unser Gegenmodell war, den ganzen Prozeß zu verlangsamen. Diese katastrophale und ruinöse Übereilung ist ja einer der Gründe dafür, warum so schnell und so plötzlich und in solchem Übermaß die soziale Problematik auf uns zukommt. Das entspricht sogar den Voten der Bundesbank, die gesagt hat, wenn Ihr das so schnell macht mit der Währungsunion, dann ist das wie die Eiger Nordwand im Winter, d.h. da wird mehr ruiniert als bei langsamen reformerischen Prozessen. Das ist der zweite Punkt im Vorgehen der Sozialdemokraten, den ich politisch kritisiere. Hatten Sie doch mit dem DDR -Wahlergebnis den Auftrag zur Opposition. Sie hatten eine Situation, in der die Opposition so mächtig gewesen ist, wie eine Opposition sonst kaum sein kann: Sie hätte das entscheidende Votum gehabt, um die Vereinigung nach Artikel 23 des GG zu verhindern. Warum hat sie diese ungeheure Chance der Verlangsamung durch Nichtzustimmung zu Artikel 23 nicht genutzt? Man hätte Luft kriegen können, erstens für ein langsames und gut vorbereitetes ökologisch und sozial abgesichtertes Umbauprogramm auf marktwirtschaftliche Verhältnisse und zweitens für die Verfassungsdebatte, von der ich weiß, daß Sie persönlich die auch wollen - die gerade nicht auf Bürokratenebene sondern mit plebiszitären Mitteln stattfinden sollte. Und drittens für den Bereich der Sicherheits- und Außenpolitik. Ich denke, daß da sehr viel von dem Kredit verspielt wird, der über Jahre erworben worden ist. Das Kräftegleichgewicht in Europa ist inzwischen bedrohlich gestört.

Alle diese drei Gründe, die Währungspolitik, die Verfassungsdebatte und Außenpolitik hätten doch eigentlich diese Verlangsamung erfordert. Warum hat die Sozialdemokratie diese Chance nicht genutzt? Faktisch wird die Ost-SPD jetzt als Geisel in der Regierung gehalten. Wie will man dann hier im Westen eine ganz entschiedene Opposition gegen den Kurs der Bundesregierung machen, wenn es doch dort Solidaritätsverpflichtungen gibt?

Hans-Jochen Vogel: Sie beschäftigen sich jetzt mit der Situation in der DDR und stellen Fragen, die korrekterweise von der dortigen Schwesterpartei beantwortet werden müssen. Sie sind doch auch dafür, daß wir uns nicht als die Vormünder der Parteien in der DDR aufspielen. Aber mich reden Sie jetzt so an, als ob ich der Vorsitzende der SPD in der DDR sei. Ich habe nicht darüber zu entscheiden gehabt, ob die Schwesterpartei in die Koalition geht oder in der Opposition bleibt. Aber ich habe verstanden, daß es eine ganze Reihe von Gründen gibt, die für den Eintritt in die Regierung und dagegen sprechen, mit der PDS, die ja die alte SED ist, in der Opposition zu sitzen.

Antje Vollmer: Warum diese Phobie? Mit wem ich koaliere, daß kann ich mir aussuchen, aber mit wem ich in der Opposition sitze, nicht. Da gibt es auch keine Kollektivhaftung. Wir sitzen ja auch zusammen in der Opposition.

Hans-Jochen Vogel: Das ist nicht vergleichbar. Wir hatten in den letzten acht Jahren keine andere Option. Was das Tempo angeht, so muß selbstverständlich Zeit für verantwortliches Nachdenken bleiben. Die Einigung darf sich nicht über die Köpfe der Menschen hinweg vollziehen. Dann der Weg zur deutschen Einheit nach Artikel 23. Uns kommt es darauf an, daß die Einigung am Schluß von Verhandlungen steht, die zu festen Vereinbarungen führen. Das will nach der Regierungserklärung auch Herr de Maiziere. Darauf hat unsere Schwesterpartei bestanden. Und das ist das Entscheidende. Wenn die Sache so läuft, ist der Artikel 23 gar nicht mehr das zentrale Problem.

Auch in Sachen Abrüstung kann ich Sie nicht verstehen. Ich würde mir wünschen, daß Herr Kohl so eine Regierungserklärung abgibt, wie Herr de Maiziere. Das wäre fabelhaft, Herr de Maiziere hätte ungefähr das gesagt, was ein sozialdemokratischer Bundeskanzler hier zur Abrüstung sagen würde. Und: Bei allem, was man zu und über Herrn Eppelmann sonst noch sagen könnte: Es ist doch nicht schlecht, daß ein Kriegsdienstverweigerer und Pazifist nun Verteidigungsminister und Abrüstungsminister ist. Ist es nicht so, daß Sie immer noch meinen, im Zweifel sei Opposition immer noch das unbeflecktere, infolgedessen das vorzugswürdigere?

Antje Vollmer: Ich finde, daß Opposition eine demokratisch legitime Position ist...

Hans-Jochen Vogel: Einverstanden.

Antje Vollmer: ... die auch bestimmte Verpflichtungen beinhaltet...

Hans-Jochen Vogel: Einverstanden.

Antje Vollmer: ... Und es gibt komplizierte historische Situationen, wie wir sie gehabt haben, wo es zum Schaden des Ganzen ist, wenn es keine Opposition gibt, die die öffentliche Meinung wirklich in zwei Alternativen teilt, und die auch einen anderen gangbaren Weg darstellt und alle Kraft darauf setzt, den durchzusetzen. Ich behaupte, dies wäre mehrheitsträchtig gewesen, wenn es innerhalb der Opposition eine Einigkeit gegeben hätte, das als eine wirkliche Alternative anzubieten.

Hans-Jochen Vogel: ... Sind wir jetzt in der Bundesrepublik?

Antje Vollmer: Ja, in diesem Fall sind wir in der Bundesrepublik. Im Augenblick wird hier dem Geiste nach sehr viel auf große Koalition hin gehandelt. Das, was in der DDR passiert, hat deshalb Auswirkungen auf das Verhalten hier. Es wird für eine West-SPD sehr kompliziert werden, bei einer Verzahnung über eine Koalitionsgemeinschaft in einem sich sehr schnell einigenden Deutschland hier eine zum Machtwechsel entschlossene Oppositionspolitik zu machen.

Hans-Jochen Vogel: Wenn Menschen in der besonderen Situation, in der sich die DDR gegenwärtig befindet, eine möglichst breit getragene Regierung wollen, dann kritisiere ich das nicht und sehe es auch nicht primär durch die parteitaktische Brille. Im Übrigen kann ich mich nur an die Fakten der Koalitionsvereinbarung und die Regierungserklärung halten - und die sind doch nicht so schlecht. Wenn Herr Kohl hier Ähnliches sagen würde, würden sogar Sie ihm zustimmen.

Antje Vollmer: Aber durch jede Zeile schimmert die Ohnmacht dieser Regierung und ihre begrenzte Zeit. Es ist eine selbstentlarvende Ironie, daß die DDR-Regierung als erstes über die Frage der inneren Sicherheit berät, was direkt ein Affront gegen das Herzstück der Revolution ist, in der es doch gerade um Ausweitung von Bürgerfreiheiten ging. Nun kriegt die Bevölkerung unter einem DSU-Innenminister als erstes die innere Sicherheit verordnet zum Schutz der Minister.

Ich bin wie sie der Meinung, daß eine Vereinigung nach Artikel 23 - wenn es vertraglich abgesichert ist - auch Zeit braucht. Trotzdem hat dieser Weg entscheidende Nachteile gegenüber Artikel 146. Wenn der Vertrag sehr sorgfältig und lange ausgehandelt würde, wenn es ein Plebiszit darüber gibt und die nächsten gesamtdeutschen Bundestagswahlen finden ordentlich nach vier Jahren statt, dann könnte man die ganze Debatte vergessen. Zeitlich kann man das also nicht unbedingt belegen, daß das eine besser ist als das andere. Aber bereits jetzt findet die ganze Diskussion auf Bürokratenebene und Exekutivenebene statt, und sowohl das Parlament und die öffentlichkeit sind ausgeschaltet. Nach Artikel 23 jedenfalls gibt es keine Notwendigkeit, sie einzubeziehen. Außerdem gibt es keinen Garanten für die Einhaltung des Vertrages, wenn die Volkskammer dem Artikel 23 zugestimmt hat. Das heißt, man liefert sich aus. Außerdem hat die Sowjetunion eindeutig gesagt, einem solchem Prozeß über Artikel 23 werde sie nicht zustimmen. Hat sie nun dazu etwas zu sagen und was bedeutet dies für die Zwei-plus-vier -Konferenz?

Hans-Jochen Vogel: Wir sagen, es müssen sorgfältige, gründliche partnerschaftliche Verhandlungen über alle Fragen stattfinden, die mit der staatlichen Einigung zusammenhängen. Ich bin sehr erfreut, die Staatsziele Umweltschutz, Arbeit und Wohnung aufzugreifen. Es wird auch, wie die DDR-Regierung das will, eine erneute Debatte über den Paragraphen 218 geben. In der koaltitionsvereinbarung ist festgelegt, daß die DDR auf ihrer Fristenregelung beharren will. Sicherlich wird das Grundgesetz die Grundlage sein, aber das andere wird dazu kommen. Wenn der Vertrag dann vorliegt, dann ist der nächste Schritt ein Volksentscheid in beiden deutschen Staaten. Mir geht es dabei auch darum, daß die Geburtsurkunde des neuen deutschen Staates vom Volk ausgestellt wird.

Antje Vollmer: Mit dem Volksentscheid war ich immer sehr einverstanden.

Hans-Jochen Vogel: Das Volk soll selber entscheiden. Dann kommt als drittes die Wahl zum Parlament eines neuen deutschen Staates. Die Frage nach dem Termin für die Bundestagswahl, die jetzt so hochgeputscht wurde, die beantwortet sich dahin, daß von den ausgehandelten Verfassungsnormen eine lautet, mit der Konstituierung des ersten gewählten Parlaments des neuen Bundestages endet die Legislaturperiode der Volkskammer und des Bundestages. Wann das ist, darüber will ich nicht spekulieren. Das wird in der nächsten Legislaturperiode sein, 1992 wäre ein vernünftiges Jahr, es könnte auch 1993 sein.

Antje Vollmer: ... Es kann auch 1994 sein.

Hans-Jochen Vogel: Na gut. Ich will es nicht verzögern, wenn alles ausgehandelt ist. Und bei allem Mißtrauen, das man als Opposition gegenüber der Regierung und den Mehrheiten hat wenn Dinge in Vertragsform festgelegt worden sind, dann stellt sich die Frage der Garantie für die Einhaltung nicht mehr. Da habe ich zum Verfassungsgericht und anderen Institutionen genügend Zutrauen, daß das auch realisiert wird.

Es hört sich so an, als ob sie alle Hoffnung an die DDR -Regierung delegieren. Aber welche Rolle spielt denn die Opposition in der Bundesrepublik?

Hans-Jochen Vogel: Wir kritisieren, daß Herr Kohl den ganzen Vereinigungsprozeß als eine Art Privatangelegenheit betrachtet, daß es Informationen so gut wie überhaupt nicht gibt, daß man hinsichtlich des Staatsvertrages auf Presseinformationen angewiesen ist. Es ist ja rührend, daß er ankündigt, mich jetzt persönlich informieren zu wollen. Es ist ein einmaliger Vorgang, daß während solche geschichtlichen Prozesse ablaufen, der Bundeskanzler nur ein einziges Mal den Vorsitzenden der stärksten Oppositionspartei um ein Gespräch gebeten hat. Und das, weil er die Zustimmung haben wollte, aus Steuermitteln für den Wahlkampf in der DDR einige Millionen flüssig zu machen. Das habe ich abgelehnt.

Antje Vollmer: Ein Hinweis auf unsere Erfahrungen auch in anderen Fällen mit der Exekutive, daß die parlamentarischen Verfahren möglichst abgekürzt und als ein lästiges Beiwerk empfunden werden. Die ganze Vertragsverhandlung wird als reine Exekutivensache verstanden. Rein unter Demokratie- und Parlamentsgesichtspunkten ist dies hochgefährlich. Nach Artikel 146 wäre genau dies nicht möglich, danach muß alles parlamentarisch und bei Gleichberechtigung beider Parlamente stattfinden.

Hans-Jochen Vogel: Bei Artikel 146 ist die Bürokratie keineswegs ausgeschaltet. Das ist nicht wahr. In diesem Fall gibt es eine verfassungsgebende oder eine verfassungsentwerfende Versammlung. Aber die hat keine Kompetenz, die Vorschriften unterhalb der Ebene der Verfassungs zu erarbeiten. Umgekehrt müssen beim Weg über Artikel 23 auch Verfassungsnormen geschaffen werden. Aber Sie haben Recht: die Art und Weise, wie das Parlament aus dem Prozeß der deutschen Einigung ausgeschaltet wurde, ist empörend. Wir haben auch den Antrag eingebracht, daß ein gemeinsamer Ausschuß aus Bundesrat und Bundestag gebildet wird, um denn Prozeß der Einigung zu begleiten. Die Volkskammer hat einen solchen Ausschuß bereits gebildet. Die Fristen, die sich für die Beratung des Staatsvertrages abzeichnen, sind davon unabhängig für das Parlament eine Zumutung.

Antje Vollmer: Auch de Maiziere hat von acht Wochen gesprochen. Und der weiß, daß die Währungsunion bereits der vollzogene Anschluß ist.

Hans-Jochen Vogel: So weit würde ich nicht gehen, zu sagen, dies sei der Anschluß. Über die Währungsunion läßt sich sehr viel sagen, aber wie die Dinge bislang gelaufen sind, glaube ich nicht, daß man das einfach abbrechen und sagen kann, wir nehmen dieses Thema in einem Jar wieder auf den Tisch. Das wäre vielleicht vor dem Kohlschen Wahlversprechen möglich gewesen. Aber wir müssen auch bedenken, was das für die Menschen in der DDR bedeuten würde, die sich geradezu verraten und verkauft vorkommen. Und deshalb haben sie ja auch energisch protestiert, als es nach einem Wortbruch aussah.

taz: Man hat zuweilen den Eindruck, Sie wollten über den Umweg DDR erreichen, was die Linke und die SPD in der Bundesrepublik nie geschafft haben?

Antje Vollmer: Es wäre nicht illegitim, wenn die Opposition und die Linke in der Bundesrepublik über den Hebel der DDR etwas erreichen wollen, was sie hier aus eigener Kraft nicht schaffen. Aber ich will ja mehr. Wir wollen über die Verfassungsdebatte die gesellschaftliche Weiterentwicklung, die es bei uns gegeben hat, die demokratischen Errungenschaften seit 1968 auch verfassungsmäßig festhalten und verteidigen. Denn die Gefahr einer Rechtsentwicklung und eines Demokratieabbaus ist überhaupt nicht ausgeschlossen. Wir wollen basisdemokratische Elemente und Plebiszite. Die sehr rigiden Parteimonopole und die demokratieängstlichen Momente unser Verfassung müssen aufhören. Dazu gehört eindeutig die Fünf-Prozent-Klausel. Ich möchte die Frage der Ökologie und die Entwicklung zu einer multikulturellen Gesellschaft festgeschrieben haben, von der ich meine, das sei ein Fortschritt gegenüber der DDR. Nicht nur in der DDR drohen viele Errungenschaften der demokratischen Revolution verlorenzugehen. Ähnliches gilt auf für uns. Was sich bei uns seit 1968 an demokratischen Entwicklungen getan hat, zum Beispiel bei den Frauen, das kann die DDR nicht in die Verhandlungen einbringen - damit wäre sie auch überfordert.

Hans-Jochen Vogel: Ich bin erneut weniger pessimistisch als Sie, weil es durchaus Fragen gibt, die bei diesem Einigungsprozeß aufgrund der Erfahrungen und der Situation in der DDR auf die Tagesordnung gehören - etwa die von mir schon erwähnte Umweltfrage. Angesichts der dort weit fortgeschrittenen Umweltzerstörung ist es doch besonders naheliegend, daß man den Umweltschutz zum Staatsziel erhebt. Zur Ausländerfrage - die DDR hat ein Ausländerwahlrecht. Die Fünf-Prozent-Klausel halte ich nicht für undemokratisch, sie hat zu einer gewissen Stabilität beigetragen.

Antje Vollmer: Es ist kein Pessimismus, sondern die schlichte Bilanz, daß jedes weitere Jahr Kohl-Regierung 5 Jahre Reparatur zur Konsequenz hat, um allein die umweltpolitische Bilanz wieder hinzukriegen. An dieser Stelle stehen wir sehr wohl unter einem sehr großen Zeitdruck.

Hans-Jochen Vogel: Also bringen Sie uns bei der nächsten Wahl zehn, fünfzehn Prozent, dann können wir uns wieder unterhalten.

Antje Vollmer: Die Grünen machen im Augenblick ja auch einen Seilakt an der Steilwand. Wir wollen in dieser Frage das Gesicht der Partei noch im Wahljahr identischer und authentischer machen. Ich hoffe, es gelingt uns. Ich weiß sehr wohl, daß gerade im Moment durch die Beschleunigung der Politik der Druck bei uns wächst. Wir können uns ja im Juni darüber unterhalten, ob die Grünen dann das Gesicht einer ökologischen Bürgerrechtspartei haben, mit dem sie auch gesamtdeutsch auf 10 Prozent kommen. Aber egal wie - es kommt auch auf die größte Oppositionspartei an. Will die SPD überhaupt einen Politik - und Generationswechsel in Bonn? Der ginge nur mit den identischen Trägern der neuen politischen Themen und nicht, indem man sie gesamtdeutsch vom Tisch schubst und sich alles auf den Kampf zweier Parteien reduziert. Und nicht einmal der ist zu gewinnen, wenn die SPD halbherzig alle Möglichkeiten - von der großen Koalition mit Helmut Kohl bis zum politischen Gezeitenwechsel mit den Grünen offenläßt.

Hans-Jochen Vogel: Ich habe keinen Anlaß, verschiedene Koalitionsoptionen zu bewerten. Ausgeschlossen haben die Sozialdemokraten lediglich eine große Koalition, es sei denn, wir hätten einen nationalen Notstand. Den sehe ich aber trotz aller Probleme nicht. Selbst dann wäre eine Allparteienkoalition sinnvoller. Nur damit kein Mißverständnis entsteht: Daß wir ein solches Gespräch miteinander führen, ist für mein Demokratieverständnis etwas ganz selbstverständliches. Ich rede ja auch mit Repräsentanten anderer Parteien. Die Entwicklungen bei Ihnen verfolge ich mit Aufmerksamkeit und ohne jede Häme. Die Grünen haben seinerzeit Fragen aufgeworfen, die überfällig waren und auf diese Weise das gesellschaftliche Bewußtsein verändert und auch uns Sozialdemokraten herausgefordert. Daß ihre Antworten auf diese Fragen nicht die unseren waren, das steht auf einem anderen Blatt. Eine Bemerkung will ich dabei nicht unterdrücken: Wenn Männer und Frauen, die sich lange bei Ihnen engagiert haben, zu dem Ergebnis kommen, es sei leichter, die Wirklichkeit mit uns Sozialdemokraten zu verändern als mit den Grünen, dann bin ich darüber nicht traurig - auch wenn ich keine Werbung betreibe. Frau Vollmer, Sie haben vorhin gesagt, die Zeit wird knapp, das gilt glaube ich auch für den Bereich, in dem Sie sich in einer von mir - bei aller Unterschiedlichkeit - stets respektierten Weise - engagiert haben.

taz: Fürchten Sie denn den Verlust der Grünen - jetzt nicht als Koalitionspartei - sondern überhaupt als Oppositionspartei, die man braucht, um diesen deutschen Einigungsprozeß sozial und ökologisch verträglich zu gestalten?

Hans-Jochen Vogel: Also ich bitte um Nachsicht, wenn ich als Vorsitzender meiner Partei sage, wir fühlen uns kompetent genug, um die soziale und ökologische Verträglichkeit immer wieder einzufordern, uns dafür zu engagieren. Und unsere Schwesterpartei hat ja von Anfang an die Ökologie gleichberechtigt neben die soziale Frage gestellt. Ich wäre ja ein merkwürdiger Parteivorsitzender, wenn ich jetzt sagen würde, gut, daß es die Grünen gibt, allein würden wir einschlafen.

Wir kämpfen bei den kommenden Landtagswahlen und natürlich bei der Bundestagswahl dafür, so stark wie möglich zu werden. Und Oskar Lafontaine ist da für manche Überraschung gut. Ich warne im Übrigen nochmal davor, daß Wahlergebnis in der DDR automatisch auf die Bundesrepublik zu übertragen. Warten wir den 13.Mai ab. Da wird sich einmal mehr zeigen, daß hier anders gewählt wird als in der DDR. Ich bin erstaunt über den Pessimismus, der hier am Tisch verbreitet wird.

Antje Vollmer: Wir können einfach den Kohl nicht mehr länger ertragen.

Hans-Jochen Vogel: Haben Sie mich gefragt, ob es mir da anders geht?

Interview: Max Thomas Mehr und Gerd Nowakowski