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Die Angst vor den „bleiernen Jahren“

Verurteilungen im Lotta-Continua-Prozeß von Mailand / Verhandlung gegen die Roten Brigaden in Forli / Neue Verhärtungen befürchtet  ■  Aus Forli/Mailand Werner Raith

Welten liegen zwischen den beiden Prozessen, die Italiens in die Jahre gekommenen Militanten der sechziger und siebziger Jahre in diesen Tagen erregen: In Mailand das Urteil gegen ehemalige Mitglieder von Lotta Continua wegen der Ermordung des Polizeikommissars Calabresi 1972, für die der international angesehene Journalist Adriano Sofri und seine beiden Genossen Giorgio Pietrostefani und Ovidio Bompressi 22 Jahre und der „Kronzeuge“ Leonardo Mariono 11 Jahre bekommen haben. Und in Forli das Verfahren gegen neun Rotbrigadisten wegen der Ermordung des christdemokratischen Senators Ruffili 1988.

In Mailand lief ein Prozeß ganz nach dem Muster der frühen achtziger Jahre ab: mit sich widersprechenden Indizien und Tatzeugen und mit summarischen Anklagen. In Forli dagegen sind es die Brigadisten, die wie Dinosaurier des Linksterrorismus auftreten, während das Gericht hier den sozialen und politischen Hintergrund aufgreift und auch herauszufinden versucht, was junge Menschen veranlaßt, ihr Opfer nicht nur zu töten, sondern vor dem Schuß auch noch niederknien und Todesangst spüren zu lassen.

In Mailand ließen sich die Lotta-Continua-GenossInnen ausführlich auf die Anklage ein und gaben ihren Haß auf den Kommissar Calabresi zu. Calabresi war der Todessturz eines harmlosen Anarchisten nach einem Verhör wegen des Anschlags auf die Landwirtschaftsbank 1969 angelastet worden. Sie kritisierten sich nun selbst wegen mehrerer Hetzartikel, blieben aber bei ihrer Behauptung, mit dem Tod des Polizisten nichts zu tun zu haben.

In Forli dagegen scheinen sich die Brigadisten geradezu in ihrer Tat zu sonnen: „Wir sind politische Gefangene, für uns spricht die Guerilla“, lautet der monotone, aber immer mit großem Stolz vorgetragene Standardsatz. Daß sie einen christdemokratischen Senator auswählten, begründeten sie in einem Flugblatt seinerzeit damit, daß der Mann Berater des damaligen Ministerpräsidenten De Mita gewesen sei. „Dem haben wir nichts hinzuzusetzen.“

Gut möglich, so die erste Einschätzung der Verteidiger im Lotta-Continua-Prozeß nach dem Urteil, daß am Ende gerade der Zynismus und die zur Schau gestellte Grausamkeit der Brigadistengruppe von Forli auch das Urteil gegen Sofri und Genossen beeinflußt hat.

Die Angst vor einem Wiederaufleben des Terrorismus sitzt tief in Italien, besonders seitdem auch noch ein durch die Abschwächung der Notstandsgesetze freigekommener, angeblich geläuterter Ex-Brigadist schwerbewaffnet verhaftet wurde. Waren bis Anfang des Jahres noch gut zwei Drittel der Italiener für eine Aufhebung der Sondergesetze aus der Zeit der „bleiernen Jahre“ und eine weitgehende Amnestie für Brigadisten, so sind inzwischen mehr als die Hälfte nicht mehr davon überzeugt, daß die Erklärungen eines Großteils der etwa 2.000 verurteilten Polittäter über ein „Ende des Bewaffneten Kampfes“ glaubwürdig seien.

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