: Visionen des Kanzlers aller Deutschen
Der Untergang des Abendlandes findet in den Bibliotheken statt /Die Sowjetunion hat bald nichts mehr zusagen Deutschland als „stärkste Wirtschaftskraft“ Europas / Helmut Kohls Wahlkampfträume in der niedersächsischen Provinz ■ Aus Duderstadt Jürgen Voges
Die Helmut-Helmut-Rufe sind verklungen. Massig steht Helmut Kohl auf der weißen Rednertribüne auf dem Grenzparkplatz Gerblingerode, den Blick den Hügel hinab auf seine 20.000 Zuhörer gerichtet, die meist aus der DDR, aus dem Oberen Eichsfeld, hierher nach Duderstadt ins Untere Eichsfeld gekommen sind. „Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verehrte Gäste! Diese wunderbare Landschaft, dieser beinahe sommerliche Tag, diese aufgeschlossenen Menschen hier, und dieser einstmals trennende Zaun, der kein Zaun mehr ist.“ So beginnt Kohl. Doch für alle sichtbar steht der Zaun noch, auch wenn hier im Januar auf dem Parkplatz 60.000 die Vereinigung des Eichsfeldes gefeiert haben. Das macht nichts, denn „dies ist eine historische Stunde“ und „der Untergang des Abendlandes findet nur in den Bibliotheken statt“.
Mit zwingender Logik stellt der Kanzler fest: „Wer heute 20 Jahre alt ist, wird nach menschlichen Ermessen das Jahr 2000 erleben.“ Wie immer strotzt seine Rede vor Banalitäten und auch Propaganda-Kitsch. Doch die Augen des Publikums kleben am „Kanzler aller Deutschen“, wie ihn ein Plakat der „CDU Brehme“ nennt. Seine außenpolitische Zukunftsvorstellung: „Im Jahr 2000 werden nur noch drei große Blöcke das Weltgeschehen bestimmen: die USA und Kanada in Nordamerika, Europa und Japan im Fernen Osten“. Die UdSSR hat Kohl gedanklich aus dem Kreis der Großmächte bereits gestrichen und er kann deswegen sagen: „Wir werden dann erleben, daß nicht mehr andere über uns selbst bestimmen. Wir werden unser Wort selber reden.“
Für Kohl ist klar: „80 Millonen Deutsche im Herzen Europas“ werden dann die „stärkste Wirtschaftskraft“ des Kontinents darstellen, auch wenn dadurch „schlimme Erinnerungen wieder wach“ werden. Zwei Anläufe braucht der Kanzler um den Satz „Von deutschen Boden muß Frieden ausgehen“ herauszubringen, und doch glaubt er nicht an eine friedliche Zukunft: „Wir können gar nicht genug Freunde in der Welt haben, denn nicht jeden Tag ist Sonnentag, wir müssen uns auch auf stürmische Zeiten einrichten.“
Kohls innenpolitische Programmstücke sind neoliberal: „Was braucht die Wirtschaft jetzt - einen Befreiungsschlag, wie man das im Fußball nennt.“ Deswegen ist er gegen Arbeitszeitverkürzung und für Steuersenkungen. „Im Steuersystem müssen die belohnt werden, die fleißiger sind als andere.“ Die Wirtschaft solle „erstklassige Waren zu vernünftigen Preisen“ liefern: „Was nützt Arbeitszeitverkürzung, und wir haben Massenarbeitslosigkeit“, stellt er die Arbeitszeitdiskussion von den Füßen auf den Kopf.
Die Kanzlerrede über Deutschlands Zukunft als Großmacht endet als Predigt, die auf das inbrünstig gesungene „Lied der Deutschen“ einstimmt: „Der Weltuntergang findet in Deutschland nicht statt - dies ist ein Land, das wieder zu sich selbst findet. Es ist Zeit zum Aufbrechen. Es geht um unsere Heimat, unsere Dörfer, unsere Städte, um Niedersachsen, um Deutschland, um Europa.“
Für CDU-Stimmen bei der DDR-Kommunalwahl und bei der Niedersachsenwahl hat der Kanzler auf dem Grenzparkplatz bei Duderstadt „in dieser zutiefst europäischen Landschaft“ auch noch geworben. Der SPD-Spitzenkandidat Gerhard Schröder ist für Kohl natürlich jemand, „der von der Geschichte und dem geschichtlichen Auftrag nichts verstanden hat“. An einen erneuten Wahlerfolg Ernst Albrechts scheint Helmut Kohl jedoch nicht recht zu glauben. Obwohl es in Niedersachsen um die Bundesratsmehrheit geht, sagte er auf der Pressekonferenz vor der Kundgebung: „Die Landtagswahl ist in keinster Weise vorentscheidend für die kommenden Bundestagswahlen.“
Die doppeltbepackten Mettwurstbrote in sich hineinstopfend und dabei dem siberbehangenen tiefgebräunten Duderstädter Bürgermeister jovial zuschmatzend und schwätzend, hatte der Kanzler im Duderstädter Ratskeller die Ursachse seiner Leibesfülle zu Schau gestellt. Die Kameras hatte er mit einer Handbewegung aus der Pressekonferenz verbannt, bevor er vorführte, wie weit ein Kleinbürger ohne Tischmanieren kommen kann.
Kohl wollte auf dieser Pressekonferenz weder „bestätigen noch dementieren“, daß von seiten der Bundesrepublik in den nächsten eineinhalb Jahren zwischen 60 und 100 Milliarden DM zur Abdeckung des Defizits des DDR-Staatshaushaltes aufgebracht werden müssen. Er erklärte aber, daß der Bundesfinanzminister in seinen Verhandlungen mit den Länderfinanzministern durchaus solche Summen nennen könne, und deutete dann an, daß die Vereinigung noch teurer werden könnte: Die Kosten, die aus den Wirtschaftsbeziehungen der DDR mit der Sowjetunion entstünden, müsse man auch noch einbeziehen. Kohl hat also in den Verhandlungen mit der Sowjetunion über die Lieferverpflichtungen der DDR die deutsche Einheit noch zu kaufen. Er sagt: „Wann sollen wir die deutsche Einheit wagen, wenn nicht jetzt.“ Und er weiß, daß diese teuer wird, daß er auch sein andächtiges Publikum aus dem Eichsfeld enttäuschen muß. Wohin aber werden sich diese biederen Bürger nach der Enttäuschung wenden, wohin werden sie aufbrechen, wie es der Kanzler von ihnen verlangt?
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