piwik no script img

Sowjetische Marktwirtschaft

■ In einem Interview mit „Le Monde“ fordert Nikolai Petrakov, Wirtschaftsberater Gorbatschows, eine radikale Entstaatlichung der Wirtschaft in der UdSSR

Nikolai Petrakov, seit dem 2. Januar dieses Jahres Gorbatschows Wirtschaftsberater, gilt als einer der wichtigsten Befürworter von Entstaatlichung und Beschleunigung der ökonomischen Reformen, die der sowjetische Präsident in seiner Regierungserklärung angekündigt hat. In einem Interview mit 'Le Monde‘ spricht Petrakov als Privatperson. Bedenkenswert bleibt jedoch, daß Gorbatschow diesen Mann an seine Seite rief, als er die zweite Etappe der Perestroika in Angriff nahm.

Wird die von Gorbatschow angekündigte „Radikalisierung“ in die Tat umgesetzt werden?

Ich glaube schon, ich wäre sehr dafür. Man muß verstehen, daß es sich hier um das Wirtschaftssystem als solches handelt: um den Übergang zur Marktwirtschaft. Die Frage lautet nicht mehr „was tun“ sondern „wie tun“. Unsere Situation ist beispiellos. Siebzig Jahre lang haben wir den Markt zerstört, und nun müssen wir von einem nicht existierenden Markt zur Marktwirtschaft übergehen. Früher gab es viele ideologische Schranken, weil, wie man weiß, das sozialistische System als Gegenstück zur Marktwirtschaft konzipiert wurde. Diese Hindernisse wurden nun aufgehoben.

Wurden schon Entscheidungen getroffen? Werden sie bald der Öffentlichkeit mitgeteilt?

Das Regierungsprogramm enthält eine bestimmte Anzahl von Maßnahmen zur Verstärkung des Finanzwesens, zur Ausweitung der Unternehmensautonomie, zur Reorganisation des Banksystems. An all das denken wir schon seit geraumer Zeit, aber wir kommen nur langsam voran. Wettbewerbsbedingungen schaffen

Wie sieht das Anwendungsverfahren aus?

Wir müssen zu harten Maßnahmen greifen, um die Marktwirtschaft richtig einzuführen. Viele sowjetische Wirtschaftswissenschaftler sind sehr von den in Polen eingeführten Reformen beeindruckt, von der Schocktherapie des Herrn Mazowiecki. Sie glauben deshalb, daß die Freigabe der Preise ausreichen wird, damit der Markt uns das Glück beschert.

Ich, meinerseits, finde das sehr naiv, denn bevor man die Preise freigibt, muß man Wettbewerbsbedingungen schaffen, ohne die es keine freien Preise geben kann. Eine der ersten zu ergreifenden Maßnahmen muß zur Entmonopolisierung der monopolisiertesten Wirtschaft der Welt führen. Zu den technisch bedingten Monopolen kommen bei uns die organisatorischen der Ministerien und der Großunternehmen, wie zum Beispiel Aeroflot und Intourist, die ja auch im Ausland bekannt sind. Anders gesagt, um Aeroflot in verschiedene Firmen aufzuteilen, genügt eine politische Entscheidung. Es ist ganz einfach, die organisatorischen Monpole zu zerschlagen.

Diese Ministerien (N. Petrakov spricht hier von denen, die dem industriellen Bereich übergeordnet sind) existieren nur, weil es keinen Markt gibt, denn sie verkörpern ganz klar das Gegenteil. Wenn die Unternehmen vom Markt profitieren könnten, wären sie überflüssig, das wissen sie ganz genau. Also muß man von einem Ministerialsystem zu einem Aktiensystem übergehen. All diese Unternehmen müssen in Aktiengesellschaften umgewandelt werden, mit freiem An- und Verkauf für Privatpersonen, Unternehmen, in- und ausländische Banken.

Wird es dazu kommen?

Ich wäre sehr dafür.

Weil auch Sie Aktien der sowjetishen Unternehmen kaufen würden?

(Zuerst im Scherz) Wenn es sich um eine Gesellschaft mit Staatsanteilen handeln würde, - warum nicht? (Wieder ernst) Wissen Sie, das hängt von den Dividenden ab, wenn sie höher lägen als der Zinssatz.

Aber die Sowjetbürger wissen nicht einmal, was eine Aktie ist!

Das muß man ihnen erklären.

Wie könnte man all das in die Tat umsetzen?

Sehr einfach. Die juristischen Regelungen kann man sich leicht vorstellen. Da sehe ich kein Problem, aber falls Sie mich fragen wollten, ob das wirklich möglich ist, antworte ich Ihnen, daß viele Dinge, zum Beispiel das Mehrparteiensystem, vor 5 Jahren noch unmöglich schienen.

Wie werden Sie vorgehen? Alles zum Kauf anbieten und darauf warten, daß die Rentner ihre Rubel unter den Matratzen hervorholen?

Hören Sie, natürlich könnte man davon ausgehen, daß Unternehmen als Privateigentum überlassen werden, aber, entschuldigen Sie, Sie denken in westlichen Kategorien. Ich kann mit nur sehr schlecht vorstellen, wie eine Privatperson Kapitaleigener eines Unternehmens werden oder auch nur eine Aktienmehrheit haben könnte, wenn sie schon 5 Jahre lang sparen muß, um eine Auto zu kaufen. Die Leute werden Aktien kaufen können, aber wir denken an ernsthaftere Maßnahmen.

Nehmen wir noch einmal das Beispiel Aeroflot und die Situation, in der diese Gesellschaft Geld braucht, um neue Flugzeuge zu kaufen. Jetzt wendet sie sich an die staatliche Planungskommission Gosplan und beantragt soundsoviel Rubel und soundsoviel Devisen, wenn sie zum Beispiel einen Airbus erstehen will. Die Funktionäre versammeln sich, begutachten diese Anfrage gleichzeitig mit denen aus anderen Wirtschaftsbereichen und treffen ihre Entscheidung ... in der Regel eine schlechte. Handelte es sich aber um eine Aktiengesellschaft, würden unserer Aeroflot außer ihren Gewinnen zwei Finanzquellen zur Verfügung stehen: Aktienverkauf oder Bankkredit. Für die Unternehmen würde der Staat in keiner Form mehr als Investitionsgeber existieren, sonders es würde durch verkaufte Aktien Kapital angehäuft und ein Investitonsprozeß eingeleitet, der den Marktgesetzen entspricht. Das entscheidende Hindernis auf dem Wege zur Marktwirtschaft ist wirklich ds absolute Investitionsmonopol.

Und um der Marktwirtschaft diesen Weg zu eröffnen, wollen Sie die Staatsinvestitionen abschaffen? Ist das die Grundidee?

Aber ja. Die Einführung eines mehr oder weniger ausgeglichenen Warenangebots ist keine sehr schwierige Angelegenheit. Wir kennen die Preise, für die man Fleisch in den Regalen findet. Wenn Sie direkt auf die Märkte zu den Bauern gehen, gibt es da ein Angebot und ihre Preise sind bekannt.

Das Wiederherstellen eines ausgeglichenen Warenangebotes heißt jedoch nicht, einen Marktmechanismus einzusetzen, der voraussetzt, daß hohe Einnahmen zu einer rapiden Geschäftsentwicklung führen sollen nach dem Gesetz, daß das Kapital da zu finden ist, wo die Profite am höchsten sind. Da bei uns jeder Profit dem Staate zugeführt wird und sich nach administrativ festgesetzten Prioritäten wieder umverteilt, gibt es keine Produktionssteigerungen.

Welches wäre der zweite Schritt nach der durchgeführten Entstaatlichung?

Dann wird sich das Problem der Inflation stellen, einer in Jahrzehnten akkumulierten Inflation, entstanden durch das Dogma, demzufolge der angemessene Kampf gegen die Inflation in einer rigiden Preiskontrolle besteht. Diese Kontrolle wurde ausgeübt, ohne die Einkommen zu überwachen, die sich bei uns schnell steigerten, und umso schneller, als die durch den Staat mit einigen großen und unproduktiven Projekten stimuliert wurden.

In einer normalen Wirtschaft hätte das zu Preissteigerungen geführt, aber da unsere Wirtschaft nicht normal ist, hat sich die Geldumlaufmenge erhöht. Diese Menge „Flaschgeld“, mit der die Leute nichts anfangen, die sie gar nicht ausgeben können. Auch die anderen Länder kennen dieses Phänomen. In der UdSSR gibt es Ersparnisse von 165 Milliarden Rubeln, die Hälfte davon wurde zwangsweise erspart, nicht etwa als vorbereitende Maßnahme für eine Investition, sondern einfach akkumuliert, weil es keine Möglichkeit gab, zu kaufen oder zu investieren.

In Osteuropa haben sich diese erzwungenen Ersparnisse, sobald es freie Preise gab, in den Läden umgesetzt und zogen Preissteigerungen nach sich. Diese Erfahrungen müssen wir mitbedenken und vorbeugend. Wir müssen die Geldumlaufmenge in neue Investitonskanäle leiten, wie den Kauf von Wohnungen, Landhäusern, Industrieaktien und natürlich auch Sparen. Deshalb muß der Zinssatz von den heutigen 2 Prozent auf 8 oder 10 Prozent angehoben werden. Man muß den Menschen die Gelegenheit geben, mit ihrem Geld Kleinbetriebe zu gründen. Und zwar bevor man die Preise freigibt, und dann darf es keine Ausnahmen geben, außer für einige strategisch wichtige und für lebensnotwendige Güter, maximal 20 bis 30 Warenerzeugnisse. Nein zur Währungsreform

Folglich also keine Währungsreform, kein Umtausch von Banknoten, um die Liquidität abzubauen?

Einige erklären, daß die Liquidität ein Produkt des Schattenmarktes, des Schwarzmarktes und der Mafiaaktivitäten sei. Meine Analyse ist eine andere. Die Betreiber der Schattenwirtschaft wissen schon viel länger als die Ökonomen, daß dieses Geld nichts wert ist. Sie haben es nicht gehortet. Sie haben Antiquitäten, Devisen, Bilder gekauft, so daß die Geldumlaufmasse in allen Bevölkerungschichten und auch unter ganz ehrlichen Menschen verstreut ist. Wenn der Staat es von einem zum anderen Tag beschlagnahmen würde, wäre das ungerecht.

Kurz gesagt: Drei Etappen - Entstaatlichung - Aufteilung der Investitionsmöglichkeiten und freie Preise. Ist es das?

Sie vergessen einen wichtigen Punkt: den Abbau der staatlichen Monopolunternehmen, der notwendigerweise zu mehreren Konkurrenzunternehmen führen wird. Jahrelang dachten wir, daß große Unternehmen eine bessere Sache seien als kleine - Gigantomanie als Postulat der Investitionspolitik - und jetzt müssen wir Wettbewerbsbedingungen einführen, denn wo es die nicht gibt, muß eine Preiskontrolle beibehalten werden.

Wer von freien Preisen spricht, spricht gleichzeitg von einem bedeutenden Rückfall des Lebensstandards. Wird es dafür einen Ausgleich geben?

Daran haben wir natürlich gedacht. Für die Ärmsten wird es ein preisbezogenes Mindestgehalt geben. Das ist sehr wichtig, sie müssen verteidigt werden, aber das wird sehr hart, denn mit einer noch nicht effizienten Wirtschaft sind die Möglichkeiten von Sozialaufwendungen sehr eingeschränkt. Auf jeden Fall stoßen wir auf eine psychologische Schwierigkeit, denn die Menschen sind die Härte des Marktgesetzes, des Wettbewerbs und des Lohngefälles nicht gewohnt. Selbst vor der Revolution gab es in Rußland eine Tradition des egalitären Ausgleichs, die natürlich durch die sowjetische Periode noch verstärkt wurde. Als erster Schritt zur Marktwirtschaft wurden auch die Kooperativen von einem großen Teil der Bevölkerung nicht akzeptiert, weil die Regierung gezwungen war, Druck auszuüben, um ihre Aktivitäten einzuschränken.

Wie können Sie also davon ausgehen, daß ihre Vorschläge jetzt akzeptiert werden?

Es wird sehr viel leichter sein, sich zurechtzufinden. Man wird weiter in demselben Unternehmen arbeiten, ohne im Anfang zu bemerken, daß es jetzt eine Aktiengesellschaft ist. Die Arbeiter bekommen wie bisher ihren Lohn, und für sie wird der Markt erst später eine Wirkung zeigen. Einige bekommen mehr, andere weniger, weitere werden arbeitslos sein, aber psychologisch ist es akzeptabler ...

Wann wird der Rubel konvertierbar sein?

Da habe ich eine Konzeption, die die Bankiers nicht teilen. Ich gehe davon aus, daß unsere Wirtschaft sich dem Weltmarkt öffnen muß. Wenn wir auch jahrelang bewiesen haben, daß man sich in einem geschlossenen System entwickeln kann, so haben wir auch gezeigt, daß die Resultate nicht überzeugen. Wie müssen uns in den Weltmarkt integrieren und uns der internationalen Arbeits- und Produktionsteilung anschließen. Für alle ist das von Interesse, insbesondere für den Westen, denn hier gibt es die einmalige Chance eines Weltmarktes.

Übersetzung: Ulla Biesenkamp

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen