: Wer war nicht dabei?
Die Rede des Regierenden Bürgermeisters Walter Momper auf der Gedenkveranstaltung im Rahmen der Tagung des Jüdischen Weltkongresses ■ D O K U M E N T A T I O N
Stehende Ovationen beendeten am Dienstag abend die Rede des Regierenden Bürgermeisters. Besonders großen Beifall erhielt Momper nach folgenden beiden Passagen:
(...) Was unangenehm ist, wird ignoriert. Bei uns gibt es die Neigung, die Schuld an den Verbrechen den „Nazis“ und der „SS“ zuzuschreiben. So, als seien es fremde Wesen gewesen, mit denen das deutsche Volk eigentlich nichts zu tun gehabt habe. So, als habe es keine Einsatzkommandos gegeben und als habe die Deutsche Reichsbahn nicht den reibungslosen Transport in die KZs und Vernichtungslager garantiert. Viele haben dazu beigetragen, daß die Maschinerie des Todes reibungslos laufen konnte. Und noch mehr haben mitgemacht, zugesehen oder geduldet, als alles anfing, als aus Nachbarn plötzlich Juden wurden, als Drangsalierung und Diskriminierung einsetzten, als ein Mensch in seinem Wert von dem anderen unterschieden wurde. Kaum jemand hat da widersprochen. Der deutsche Faschismus und der Rassismus hatten nahezu die ganze Gesellschaft erfaßt. Man hat damals das Geschehen verdrängt, wie heute noch oft verdrängt wird. Und es konnten auch die Konzentrationslager nur so lange betrieben werden, wie die Front hielt.
(...) Die Menschen in Deutschland haben für den Nationalsozialismus sehr unterschiedlich bezahlt. Sie haben, abgesehen von den eigenen Opfern, bezahlt mit der Besetzung und Aufteilung des Landes, mit dem Verlust der Heimat oder mit einem ungeliebten System. Es gibt aber auch Regionen in unserem Land, da hat sich 1945 praktisch nichts geändert. Da sind halt die Amerikaner gekommen, und die Hakenkreuzfahne wurde abgenommen. Und viele alte Strukturen und Denkweisen sind erhalten geblieben. Aber schlimm ist auch, daß die aufgesetzte antifaschistische Tradition der DDR die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte dort unmöglich gemacht hat. So kommt manches hoch, das nach bislang herrschender Staatsdoktrin längst hätte überwunden sein müssen. Hier sehen wir, wie wichtig es ist, der Wahrheit, der ganzen Wahrheit ins Auge zu sehen und sich ihr zu stellen. Denn Antisemitismus und Rassismus sind in der DDR längst nicht überwunden, wie man das früher darstellte. (...)
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