: "Einfach abziehen! Sofort!"
taz:Beginnen wir mit START, den Verhandlungen über die strategischen Atomwaffen. 1982 war eine Reduzierung der Arsenale um 50 Prozent geplant. Die 'Washington Post‘ hat jetzt ausgerechnet, daß beide Seiten nach Abschluß eines Vertrags 15 Prozent mehr Atomsprengköpfe besitzen werden als zu Beginn der Verhandlungen. Worin liegt da der Wert eines solchen Abkommens?
Warnke:Es ist ein gutes Abkommen, weil es einige der gefährlichsten Waffensysteme eliminiert. Mit anderen Worten, das prinzipielle Ziel von START ist nicht die Reduzierung der Waffensysteme auf ein möglichst niedriges Niveau, sondern die Reduzierung des Risikos eines Atomkriegs. Dieses Risiko geht vor allem von den sogenannten „Gegenschlagswaffen“, aus, die das Überleben der vergeltenden Abschreckung der anderen Seite bedrohen. Der Vertrag bringt eine Reduzierung der größten sowjetischen Raketen, der SS-18 mit jeweils zehn gewaltigen Sprengköpfen, die angeblich sogar geschützte Ziele zerstören können. Ihre Anzahl wird von 108 auf 54 reduziert, das sind immerhin 504 große Sprengköpfe weniger.
Andererseits erlaubt das Abkommen eine größere Anzahl von Marschflugkörpern, die jedoch wegen ihrer relativen Langsamkeit keine guten Erstschlagswaffen und deswegen weniger gefährlich sind.
Die Marschflugkörper galten doch wegen ihrer Flexibilität als besonders gefährlich?
Da geht es um eine andere Art von Gefahr: Es handelt sich um kleine Raketen. Wenn es mehr davon gibt, können sie weitere Verbreitung finden, und die Gefahr wächst, daß sie in die Hände anderer Regierungen und terroristischer Gruppen fallen.
Präsident Bush hat kürzlich die Eliminierung aller landgestützten Atomraketen mit Mehrfachsprengköpfen (MIRVs) vorgeschlagen. Präsident Gorbatschow hat geantwortet, dies sei nur akzeptabel, wenn die seegestützten US-MIRVs einbezogen würden. In Washington und in der europäischen Presse wird das als Abrüstungshindernis interpretiert. Wer hat hier recht?
Meiner Auffassung nach sollten wir die Beseitigung aller MIRVs ins Auge fassen, weil dies die in Krisensituationen gefährlichsten Erstschlagswaffen sind. Verteidigungsminister Cheney argumentiert, daß die seegestützten Atomraketen keine so große Bedrohung darstellen, weil sie im Gegensatz zu landgestützten Interkontinentalraketen aufgrund ihrer Mobilität keine so attraktiven Ziele für einen Erstschlag darstellen. Wenn wir das ernst nehmen, dann dürfen wir aber nicht von den Sowjets als ersten Schritt die Eliminierung ihrer mobilen Interkontinentalraketen verlangen, wie dies der Bush-Vorschlag tut. Für die gilt nämlich das gleiche Argument wie für unsere seegestützten Raketen.
Sie haben in der Vergangenheit von einer „Asymmetrie“ in den Abrüstungsvereinbarungen zuungunsten der Sowjets gesprochen. Gefährden die USA durch ihre systematische Überstrapazierung der sowjetischen Toleranz nicht zukünftige Abrüstungserfolge?
Dieses Risiko besteht. Für die Sowjets war es ein großes Zugeständnis, eine 50prozentige Reduzierung ihrer Interkontinentalraketen (ICBMs) zu akzeptieren. Wenn wir von ihnen jetzt auch noch die Eliminierung ihrer mobilen MIRVs verlangen und dabei die mobilen Raketen unserer eigenen U -Boot-Flotte behalten wollen, dann erwarten wir von den Sowjets die Zustimmung zu einem Abkommen, das nicht zur Struktur ihrer Streitkräfte paßt, für uns jedoch von großem Vorteil ist.
Sie wollten als Unterhändler der USA bereits bei den Verhandlungen in Genf 1978 die Abschaffung der MIRVs durchsetzen. Sind Sie damals am Widerstand in den eigenen Reihen gescheitert?
1978 schlug die Sowjetunion das Verbot aller mobilen, landgestützten ICBMs vor. Die USA waren damals dagegen, weil sie die Option für die geplante MX-Rakete nicht aufgeben wollten. Das ist inwischen anders.
Heißt das nicht, daß wir zwölf Jahre später noch immer über etwas verhandeln, was wir schon damals hätten haben können, daß die militärische Aufrüstung der achtziger Jahre völlig überflüssig war und daß das Konzept der Verhandlungen aus einer Position der Stärke mehr als fragwürdig ist?
Mit Sicherheit. Das Argument, man könne durch die eigene Aufrüstung der anderen Seite Konzession abtrotzen, ergibt einfach keinen Sinn. Würde die Sowjetunion heute erklären, wir entwickeln neue Waffen, um aus einer Position der Stärke verhandeln zu können, um euch zu Konzessionen zu bewegen, dann würde das eben nicht zum Nachgeben, sondern zu beiderseitiger Aufrüstung führen. Aus genau diesem Grund haben wir ja die rasche Expansion der Zahl sowjetischer Sprengköpfe erlebt.
In den USA scheint sich derzeit ein überparteilicher Konsens zu entwickeln, die seegestützten Marschflugkörper zu behalten und in Europa, einschließlich Deutschlands, neue luftgestützte Systeme, sogenannte „tactical-air-to-surface„ -Raketen, (TASMs) zu stationieren. Diese TASMs würden die ehemaligen Cruise Missiles und Pershings ersetzen - nach Meinung von Kritikern verstößt das gegen den Geist des so gefeierten Mittelstreckenwaffen-Abkommens. Das kann die Sowjetunion doch gar nicht akzeptieren.
Diese Waffen unterminieren das Mittelstrecken-Abkommen nicht wirklich. Dieses Abkommen ist gut, weil hier besonders gefährliche Waffen abgeschafft worden sind, die einen Erstschlag provozierten. Die Logik ihrer Stationierung bestand ja darin, daß sie von der Sowjetunion als plausiblere Bedrohung angesehen würden, die eher eingesetzt würden als die Interkontinentalraketen. Die Gegenlogik war, daß diese Waffen in einer Krise als erste das Ziel eines präventiven Erstschlags geworden wären. Deswegen war ich immer der Ansicht, die Pershings in der BRD würden die Sowjets nur zu einem Erstschlag verführen.
Wenn wir aber jetzt diese Mittelstreckenwaffen durch TASMs ersetzen, die von unseren Kampfflugzeugen bis an die sowjetische Grenze geflogen werden und von dort aus Moskau in Schutt und Asche legen können, dann hat sich doch nichts geändert?
Doch, weil wir nämlich solche luftgestützten Raketen immer als primäre Vergeltungswaffen angesehen haben, die aufgrund ihrer Flexibilität nicht so leicht Ziel eines Erstschlags sein konnten.
Sie haben gesagt, solange der Westen seine „targeting policy“ nicht aufgibt - die Strategie in einem „gewinnbaren“ Atomkrieg rund 10.000 militärische Ziele angreifen zu wollen -, so lange seien die gesamten Abrüstungsverhandlungen Augenwischerei. Wer trägt denn ihrer Meinung nach die Schuld für dieses krampfhafte Festhalten an einer längst überholten Kriegsführungsstrategie?
Der Grund liegt in unserer grundsätzlichen Unfähigkeit zu entscheiden, wofür wir die Atomwaffen überhaupt haben wollen. Solange wir noch das gesamte Spektrum von Zielen in einem Atomkrieg angreifen wollen, können wir überhaupt nicht ernsthaft über eine Reduzierung der Atomwaffen verhandeln. Wir müssen uns auf den Standpunkt stellen, daß der einzige Grund für den Besitz von Atomwaffen, die Verhinderung eines Atomschlags der anderen Seite ist; das heißt wir müssen uns von der Idee eines begrenzten Atomkriegs verabschieden. Dies erfordert eine politische Entscheidung, die Militärs folgen derzeit nur der ihnen immer noch vorgegebenen Doktrin.
Verteidigungsminister Cheney läßt auch in seinen jüngsten „Memoranden“ und „Richtlinien“ keinerlei Ansätze zu einem neuen strategischen Denken erkennen. Wenn wir uns die Bush -Regierung anschauen - wo soll denn diese politische Neuorientierung in den USA herkommen?
Der Druck für einen politischen Wandel wird um so stärker werden, je unwahrscheinlicher ein sowjetischer Atomschlag gegen die USA wird. Es gibt schon heute für einen sowjetischen Militärplaner keinen vorstellbaren Grund mehr, einen Vorteil in einem Atomschlag gegen die USA zu sehen. Wir Amerikaner brauchen doch nur ein paar gezielte Atomraketen auf den Kreml abzufeuern und das sowjetische Reich wird politisch von selbst auseinanderfallen. Die USA würden dagegen auch die Zerstörung Washingtons und anderer Ziele als politische Einheit überleben. Die Sowjetunion war dagegen noch nie so verletzlich wie heute. Je deutlicher dies wird, um so mehr müssen wir unsere strategischen Grundannahmen überdenken, die Existenz einner atomaren Abschreckung mit 4.000 Atomsprengköpfen auf deutschem Boden beispielsweise.
Was soll denn mit denen geschehen?
Einfach abziehen.
Wann?
Sofort, da gibt es doch keinen Grund mehr, überhaupt noch zu verhandeln.
Sprechen wir von den Konventionellen Abrüstungsverhandlungen in Wien (VKSE) . Die USA lehnen den sowjetischen Vorschlag ab, die Truppenstärke in Mitteleuropa auf insgesamt 750.000 zu begrenzen und, nach der sogenannten „sufficiency„-Regel, keinem Land die Stationierung von mehr als 30 Prozent dieser Maximalstärke zu erlauben. Warum diese Weigerung? Könnte man mit der „sufficency„-Regel nicht auf elegante Weise die von allen gewünschte Beschränkung der deutschen Streitkräfte bewirken? Dies würde eine deutsche Truppenstärke von ungefähr 200.000 Mann bedeuten, was übrigens auch gerade von der Regierung de Maiziere vorgeschlagen worden ist.
Es wäre eine wunderbare Lösung.
Warum sträuben sich die USA denn dagegen?
Dafür habe ich keine Erklärung. Einige sind vermutlich der Ansicht, daß wir auch weiterhin ein großes stehendes Heer in Europa brauchen, weil die abgezogenen sowjetischen Truppen schneller zu reaktivieren seien als die US-Truppen, die erst über den Atlantik transportiert werden müßten.
Sind Sie für eine fortgesetzte US-Präsenz in Europa. Und in welcher Stärke?
Ja, aus mehreren Gründen: als beruhigendes Gegengewicht gegen ein wiedervereinigtes Deutschland und als Sicherheit für den Fall, daß in Osteuropa ethnische Konflikte ausbrechen. Ich denke da an eine Stärke von vielleicht 75.000 Mann, die am Rande Europas, in Großbritannien und vielleicht auf Sizilien stationiert werden könnten.
Die USA bestehen weiter auf einer führenden Rolle der Nato im zukünftigen Europa. Derzeit bietet diese Nato jedoch das Bild einer Horde verschreckter Militärs, die krampfhaft am Status quo festhalten. Delegieren die USA hier nicht den Job für visionäres Denken an die falschen Leute?
Das ist richtig. Es gibt derzeit einfach nicht genug vorausschauendes Denken, wir haben uns der dramatisch veränderten Situation einfach noch nicht angepaßt. Zuviele Leute blicken nostalgisch auf die alte Ost-West -Konfrontation zurück.
„First strike“, „flexible response“, „forward defense“ man ist sich weithin einig, daß diese Begriffe antiquiert sind. Doch weder die Bush-Administration, noch das Pentagon, noch die Nato oder der US-Kongreß zeigen großes Interesse daran, diese militärischen Dogmen durch neue Strategien oder eine veränderte militärische Praxis zu ersetzen. Wo soll denn der Anstoß für eine konstruktive Reaktion auf die raschen militärischen und politischen Veränderungen überhaupt herkommen?
Im Idealfall käme dieser Anstoß von der politischen Führung. Wir müßten einen Präsidenten haben, der weiterdenkt und sich mit den besten Beratern umgibt, auch mit Leuten von außerhalb der Administration, mit Leuten wie George Ball, Robert McNamara, James Schlesinger (alles Mitglieder früherer Administrationen, R.P.). George Bush müßte, wie Lyndon B. Johnson dies von Zeit zu Zeit getan hat, eine Gruppe von „weisen Männern“ um sich scharen und sagen: Okay Leute, laßt uns über die politischen Strukturen nachdenken, die der neuen fluktuierenden Realität angemessen sind. Dann würde sich auch der US-Kongreß anschließen. Für den Kongreß ist es fast unmöglich eine eigene Außenpolitik zu entwickeln, das ist nicht die Rolle des Parlaments in den USA.
Lassen Sie uns zum Abschluß noch über ein paar Themen am Rande der Abrüstungsverhandlungen reden. Niemand spricht mehr von einem grundsätzlichen Verbot von Atomwaffentests, wie vor einiger Zeit von Gorbatschow vorgeschlagen. Warum nicht?
Weil die Reagan-Administration damals die kategorische Position bezogen hat, daß wir, solange wir von der atomaren Abschreckung abhängig sind, auch Atomwaffentests benötigen; eine Position, die von der Bush-Administration kritiklos übernommen wurde.
Wäre dies nicht der geeignete Augenblick für ein Verbot von Atomwaffentests, wo sich doch gerade alle Welt über die Proliferation von C-Waffen, ballistischen Raketen und Atomwaffen sorgt?
Die Gefahr der Weitergabe von Atomwaffen ist in der Tat das Hauptargument für ein solches Testverbot. Es ist wenig überzeugend, auf die Pakistanis und Inder in Sachen Atomwaffentests Druck auszuüben und gleichzeitig zu erklären: wir selber müssen aber unsere schon viel höher entwickelte Atomwaffen-Technologie durch Tests noch weiterentwickeln.
Die „Strategische Verteidigungsinitiative“ ist zwar als Verhandlungsproblem vom Tisch, doch der US-Haushaltsposten für „Star Wars“ hat sich in diesem Jahr um 24 Prozent erhöht. Wie ist denn das zu verstehen?
Auch das ergibt überhaupt keinen Sinn mehr. Die Bush -Administration hat einen so hohen Etat vorgeschlagen, daß selbst nach dessen Kürzung noch ein Zuwachs übriggeblieben ist. Wir sollten ein Forschungsprogramm von vielleicht zwei Milliarden Dollar im Jahr weiter betreiben, um wissenschaftlich nicht den Anschluß zu verlieren. Für ein solches Programm geben wir ja schon seit den fünfziger Jahren Geld aus. Aber wir sollten die Idee aufgeben, daß es gegenwärtig eine Star-Wars-Technologie gibt, die es Wert wäre, weiterentwickelt oder gar in die Praxis umgesetzt zu werden.
In einem Hearing des Verteidigungsausschusses des US-Senats vor wenigen Wochen, verteidigten die zuständigen Generale die Produktion der neuen binären Chemiewaffen mit dem Argument, daß der Irak sich sonst Chancen für eine C-Waffen -Attacke auf die USA ausrechnen könne. Diese absurde Argumentation wurde von den anwesenden Senatoren nicht einmal hinterfragt. Brauchen die USA die neuen Binärwaffen?
Das ist absoluter Schwachsinn. Es gibt überhaupt kein Szenario, in dem die USA mit C-Waffen zurückschlagen würden, dazu sind diese Waffen zu unpräzise. Wir brauchen für unsere Abschreckung gegenüber Ländern der Dritten Welt nicht einmal Atomwaffen. Wenn der Irak oder Libyen ihre C-Waffen einsetzen würden, reichte die konventionelle militärische Schlagkraft der Briten und Franzosen zur Abschreckung oder Vergeltung aus. Wir würden unsere Armee ja auch nicht mit Bogenschützen ausrüsten, falls die Iraner morgen ein Bogenschützenregiment aufstellen würden.
Wie kommt es, daß sich frühere Chefunterhändler, sobald sie aus dem Amt sind, zum Teil heftige Kritik an der Regierung üben?
Das liegt daran, daß man während der Verhandlungen immer extern und intern verhandelt. Abrüstungsverhandlungen sind immer auch ein Kampf gegen die eigenen Leute. Man bekommt nie, was man will. Wenn man Glück hat, läßt sich vielleicht ein Drittel der eigenen Vorstellungen durchsetzen.
Chefunterhändler muß ja ein sehr frustierender Job sein.
Frustierend und reizvoll zugleich.
Das Gespräch führte unser Korrespondent Rolf Paasch
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