: Brecht und Beckett, Frosch und Kleinkind
■ Das 2. Iberoamerikanische Theaterfestival im kolumbianischen Bogota
Ciro Krauthausen
Schubsen und Drängeln vor dem städtischen Theater im Zentrum Bogotas: ein Menschenauflauf hat sich gebildet, um einer Aufführung des kanadischen Ensembles Carbone 14 beizuwohnen. Ein Feuerschlucker nutzt die Gunst der Stunde, um sein Elend vorzuführen. Im Saal dann wieder begeisterter Applaus für die Schauspieler der ehemaligen Unterground-Gruppe, die ein feuriges Tanztheaterstück über das Nordamerika der sechziger Jahre (Das Schlafzimmer) präsentieren. Die Kanadier waren zweifellos Publikumsliebling Nr.1 eines Theaterfestvals, das nun schon zum zweiten Mal seit 1988 in der Osterwoche in Bogota über die Bühne ging. Angereist zum 2.Iberoamerikanischen Theaterfestival waren nicht nur Dutzende von kolumbianischen Gruppen, sondern auch viele internationale Bühnen: aus Osteuropa, aus Spanien, Italien und England, aus Japan und Indien, aus Chile, Mexiko und Brasilien. Ein Riesenfestival, gemessen nicht nur an den Maßstäben der „Dritten Welt“: 280 Vorstellungen in zehn Tagen, viele davon restlos ausverkauft. Dazu noch Straßentheater, Diskussionsrunden und Podiumsveranstaltungen.
Kolumbien, meint Schriftsteller Gabriel Garcia Marquez, sei dabei, sich zu einer „Kulturmacht“ zu mausern. Die zuständige Redakteurin der taz/Berlin glaubt, sie habe sich verlesen. Schwarz auf weiß hat sie es vom Korrespondenten und den Presseagenturen: in Kolumbien werden in drei Wochen gewöhnlich soviele Menschen ermordet wie in der Bundesrepublik in einem Jahr. Was, bitteschön, soll dann das Gerede über Kultur? Dabei steht fest, daß den Tausenden von Festivalbesuchern die allgegenwärtige Gewalt ziemlich egal war. Gerade in der Osterwoche schien die Lage gespannt. Wie ein Damoklesschwert schwebte über dem Festivalgeschehen die Drohung der Kokainbarone, neue Bomben zu zünden. Die schrillen Pfiffe der Leibwächter-Konvois aber, die tagein, tagaus Kolumbiens Politikern einen Weg durch den chaotischen Verkehr bahnen, drangen nicht bis in die Theatersäle. Vergessen auch die in der Stadt mit Tarnanzügen und Maschinengewehren wie in Vietnamfilmen patrouillierenden Trupps von Soldaten.
„Gewalt? Welche Gewalt?“ Ein breites Grinsen geht durch die Reihen, als ein Regisseur aus Medellin, einer Stadt, die von Journalisten gerne mit Beirut verglichen wird, auf Mord und Totschlag angesprochen wird. Die Künstler, die sich zu einer Positionsdiskussion über Theater in Medellin zusammengefunden haben, reden lieber von den über 30 Ensembles in der Zwei-Millionen-Stadt, den echten Bühnen und der Schwierigkeit, einen gemeinsamen Nenner in der Vielfalt der dortigen Theaterkonzepte zu finden. Wenig später ein Gespräch mit einer aus derselben Stadt angereisten Textildesignerin. Die erste, fast obligatorische Frage des Einwohners der vergleichbar ruhigen Hauptstadt Bogota wird schnell abgehandelt: „Natürlich läßt sich in Medellin noch ein ganz normales Leben führen.“ Es stellt sich ein peinliches Schweigen ein. Dennoch: keine Viertelstunde später berichtet die Besucherin beiläufig darüber, wie eine Schulfreundin von ihr vor kurzem entführt wurde. Der Rest des Abends ist gespickt mit schauerlichen Anekdoten über Killer und Drogen, Morde und Vergewaltigungen. Ein normales Leben: das ist nicht gelogen. Wer nicht am Wahnsinn der ufer - und frontlosen Gewalt zu Grunde gehen will, kann nichts anderes tun, als sich abzuschotten, um weiterzuleben.
„Die Zärtlichkeit ist unser Beitrag im Kampf gegen die Gewalt“, sagt Jorge Luis Perez vom Puppentheater La Fanfarria in Medellin. Sein Ensemble hat die scheinbare Banalität zum Konzept erhoben. Die Aufführung Blauses Zimmerchen handelt von ein paar Stunden im Leben eines Kleindkindes. Die Bühne ist zu einem zwei mal drei Meter großen Schaukasten reduziert worden; darin, von einer Erwachsenen im dicken orangenen Plüschkostüm dargestellt, ein eher häßliches Baby. Das Kind kann weder sprechen noch laufen: nur patschen nach den gewöhnlichen, aber übergroßen Gegenständen: dem Telefon, dem Radio, dem Nachttopf. Unterbrochen wird das Abenteuer Alltag nur von großen Beinen - dem einzig sichtbaren Körperteil der Mutter, der Schwester und des Bruders -, die das Baby überragen und seinen Willen mit Füßen treten. Eine Stunde lang das simpelste, aber gleichzeitig eines der spannendsten Stücke des Theaterfestivals. Gebannt starren die Zuschauer auf den in Babyblau dekorierten Schaukasten. Die versprochene Zärtlichkeit wird zum Horror der Inkommunikation. Bedrückt ziehen Mütter und Väter vom Theater heim in die Kinderstube.
Ganz anders das ebenfalls kolumbianische Ensemble Mapa Teatro mit De Mortibus, einer Zusammenstellung von Samuel Becketts Texten, die der Schriftsteller selbst vor seinem Tod autorisierte. Vier Endzeitfiguren in verkommenen Kleidungsstücken bewegen sich wie von einer unsichtbaren Maschinerie getrieben durch einen kahlen, grauen Raum. Während sie Texte über die Unmöglichkeit der Liebe, den Tod und die Einsamkeit rezitieren, kreisen sie immerfort um ein schwarzes Loch in der Mitte des Raumes. „Allein mit meinen Chimären.“ Am Ende finden sie sich um die Leere zusammen, und es beginnt zu regnen. Die weiß geschminkten Figuren treten an den Bühnenrand, werden in ein dämmriges Licht getaucht, und während sie monoton in vier Sprachen das Wort „Asche“ hervorwimmern, sacken sie in einer minutenlangen Szene langsam, wie von Wellen angeschwemmt, in sich zusammen. Beckett, da sind sich alle einig, hätte die Aufführung gefallen. Nur ein Zuschauer nörgelt am Ausgang: er könne dieses endlose Philosphieren über die existenzielle Krise Kolumbienes auf den Tod nicht leiden. Er irrt. Nur im weitesten Sinne geht es bei De Mortibus um Kolumbien. Beckett dergestalt aufzuführen, bedeutet vielmehr ein Bekenntnis zur Universalität der Kunst, einen Schritt weg von der erneuten Aufzählung der einheimischen Mythen. Mapa Teatro konnte mit dem gleichen Erfolg in Paris, Moskau oder New York auftreten.
Die Diskussion, ob Theater oder Literatur vorrangig die einheimische Realität wiederspiegeln muß oder aber sich von ihr abnabeln darf, ist in Kolumbien keineswegs abgeschlossen. Dabei ist sie unnütz: das Nebenbeinander setzte sich ohnehin durch und macht gerade den Reichtum der lateinamerikanischen Kultur aus. Schade, das Ninfa Aurora nicht der Beckett-Aufführung beiwohnte. Sie stammt aus einem anderen, fernen Kolumbien: den Tropenwäldern der Pazifikküste, wo neben Indios an den Ufern der Flüsse vor allem die Nachfahren schwarzer Sklaven leben. Ninfa Aurora erzählt Geschichten. Es sind fremde Geschichten, ohne chronologischen Ablauf, immer wieder von schleppend -rhythmischen Liedern unterbrochen: wie eines Tages der Frosch zu einer Fete in den Himmel geladen wurde, sich dort schlecht benahm und nach dem Hinauswurf für immer platt auf der Erde landete. Auf der Plaza horchen Hunderte von Zuhörern gebannt, wie Ninfa Aurora sich und den ihren die Welt erklärt. Langweilig sind dagegen andere, ebenfalls zum Festival eingeladene Erzähler: Studenten, die Kurzgeschichten bekannter Autoren von sich geben; Städter, die Mythen über den Mond und die Sonne verbreiten. Die Geschichten Ninfa Auroras und ihrer Freunde aber, die dürfen nicht verlorengehen. Genau wie Beckett.
Damit sind auch die Mitglieder des wohl bekanntesten kolumbianischen Ensembles, La Candelaria, einverstanden. Schon immer haben sie darauf gesetzt, die Realität Kolumbiens zu inszenieren. Eines ihrer letzten Stücke, bereits in Berlin aufgeführt, heißt El Paso. Parabel des Weges. Es ist die bislang beste Reflektion des Theaters über die kolumbianische Gewalt. Alles findet in einer Kantine am Rande irgendeiner abgelegenen Landstraße statt. Draußen regnet es unaufhörlich. Drinnen sitzten die Angestellten der Kantine und Reisende fest - ohne Chancen, zu entkommen. Immer aufs Neue rezitieren die Figuren ihre gescheiterten Träume: der Musiker erzählt von der verpaßten Möglichkeit, in einer Bigband zu spielen; das von zu Hause entrissene kleinbürgerliche Liebespärchen beginnt zu streiten, der Kantinenbesitzer meckert über die Ignoranz, die ihn umgibt, und an der er doch selber teilhat. Gegen Ende tauchen dann zwei makellos gekleidete und mit Goldketten geschmückte junge Gestalten auf. Sie weigern sich, jemanden in ihrem Jeep mitzunehmen, stapeln in der Kantine schwere Kisten und warten. Hin und wieder schmeißen sie mit Geld um sich. Als der Helikopter ankommt, der die Waffen abholt, wird ein Betrunkener kurzerhand erschossen. Schluß. Die Angst hat kein Ende. In El Paso liest eine Frau immerfort aus einem Brief an ihre Freundin vor: „Du schriebst, bei Euch sähe es schlecht aus. Ich sage Dir, schlechter als hier kann es nicht aussehen.“
Ein Anklang an das von La Candelaria immer gepflegte politische Theater schadet El Paso mehr als es nützt. Der Versuchung, im Labyrinth der Gewalt klare Schuldzuweisungen zu finden, konnte das Ensemble trotz der vorgeschlagenen Parabel nicht ganz widerstehen: am Ende wird dann doch deutlich darauf hingewiesen, daß die Waffenhändler Drogenmafiosi sind. Die Aufteilung in Gut und Böse droht einen bitteren Nachgeschmack zu hinterlassen.
Ganz ähnlich wie der, den am Ende des Jahrhunderts traditonelle Brecht-Aufführungen hinterlassen. Brecht war zu einem der thematischen Schwerpunkte des Festivals erklärt worden, und die wohl größten Erwartungen hatte bei vielen Bogotanern das Berliner Ensemble mit ihrer von den Veranstaltern gewünschten Dreigroschenoper ausgelöst. Was dann kam, war eine perfekte Inszenierung des, wie ein deutscher Zuschauer bemerkte, realexistierenden Sozialismus: bloße und langweilige Nachlaßverwaltung. Kein Wunder, daß die eventuellen Interpretationen einer brandaktuellen Realität - Mackie Messer im Land der Kokainbarone - gänzlich wegfielen. Kein kolumbianischer Theaterkritiker erinnerte sich der Parallele, denn dank der ideenlosen Inszenierung der Berliner gab es weder für diesen Gedankengang noch für irgendwelche anderen aktuellen Interpretationen einen Anhaltspunkt. Da erfreuten sich die Bogotanos dann lieber an einer von neuer Glasnost-Freiheit nur so überschäumenden Jean-Genet-Inszenierung des Moskauer Satyricon-Theaters. Oder Die drei Schwestern von Tschechow in Ungarisch: ebenfalls perfekt konservativ inszeniert von Katona Joszef aus Budapest, aber wenigstens ohne den anachronistischen Beigeschmack aus der Hauptstadt der DDR.
Kann die Kultur nur als „des Königs reitender Bote“, der, wie bei Brecht, Gnade vor Recht ergehen läßt, aufgefaßt werden? Nein, und das wird auch nicht dadurch geändert, daß das Festival von Regierung und Privatwirtschaft aus Gründen des Renomees massiv unterstützt wurde. Andererseits erstaunt sie immer wieder, die brodelnde Kulturszene in einem der gewalttätigsten Länder der Erde. Nicht nur Ensembles wie La Fanfarria, Mapa Teatro oder La Candelaria besitzen internationales Niveau. Auch der Regisseur Victor Gaviria wird voraussichtlich beim Filmfestival in Cannes Aufsehen erregen. Nach Gabriel Garcia Marquez ist ein anderer kolumbianischer Schriftsteller im Kommen: Alvaro Mutis, letztjähriger Medicis-Preisträger in Frankreich. Eine ganze Legion von Künstlern harrt darauf, den doch schon etwas überholten Maler Fernando Botero mit seinen dicken Figuren auf dem internationalen Kunstmarkt abzulösen. Selbstverständlich ist auch die kolumbianische Kultur gezeichnet von typischen „Dritte Welt„-Problemen; Bewegungen sind die Ausnahme; es sind meist einzelne, die herausragen. Viele gehen früher oder später ins Ausland, denn nur dort können sie sich an neueren Strömungen messen. Eine breite Kulturszene ist letztlich auch eine Frage der verfügbaren Dollars. Und trotzdem: gerade das Theaterfestival hat gezeigt, wie viel sich in Kolumbien tut. Den Widerspruch, den der Kontrast mit den grausamen Statistitken der Gewalt auftut, wird es weiter geben. Solche Widersprüche aber, deren es in Kolumbien sehr viele gibt, bedeuten Vielseitigkeit. Und in der Vielseitigkeit besteht einer der größten Reize Kolumiens.
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