: Verfassungslos
Über die legalistische Maskerade der Volkskammermehrheit ■ K O M M E N T A R E
Allmählich wird wohl die Zeit beendet sein, in der man mit gerührtem Verständnis die junge DDR-Demokratie betrachtet. Es ist nicht nur ein Staat, sondern eine Demokratie auf Abruf. Viel demokratischer Geist ist von der im Westen so gefeierten Revolution wahrlich nicht übriggeblieben. Es gehört inzwischen eher zu den Insignien der Macht, sich auf sie zu berufen. Vor allem in der Volkskammer - dem ersten frei gewählten Parlament der DDR - scheint doch die spezifische deutsche Mischung von Legalismus und Ellbogen, ergänzt durch die vierzigjährige Routine der Komplizenschaft mit der Macht, die Mehrheit zu haben. Die Behandlung der Verfassungsfrage ist das beste Beispiel: Die geltende Verfassung aufzuheben kraft des revolutionären Volkes mochte man nicht; gelten sollten die geltende Verfassung aber auch nicht; also zurück zur Verfassung von 1949, bis zu dem Augenblick, als man erkannte, was in ihr stand. Die parlamentarische Auseinandersetzung über den Entwurf des Runden Tisches wurde abgebügelt, weil die zu einer ernsthaften Verfassungsdiskussion geführt hätte. In 48 Stunden ließ Justizminister Wünsche einen neuen Verfassungsentwurf ausarbeiten, bis man entdeckte, daß eine DDR-Verfassung sich gefälligst nach dem Staatsvertrag zu richten habe. Jetzt hat die große Koalition eine Verfassungsänderung eingebracht, die nichts anderes ist als eine Generalklausel mit sieben Artikeln, die besagen: Die Verfassung stimmt nun mit dem Staatvertrag überein, und alle Artikel, die noch nach demokratischem Zentralismus riechen, „sind nicht anzuwenden“. Verfassungs-do-it-yourself.
Ganz abgesehen davon, daß es kaum der Rechtssicherheit dient, wenn mit einer solchen Generalklauselei die Gültigkeit der Verfassungsartikel zur Interpretation freigegeben wird - warum wird überhaupt noch diese peinliche Stümperei betrieben, wenn die Mehrheit ohnehin die Verfassungsfrage den Opportunitäten und Zeitplänen der Einigung unterworfen hat? Diese konstitutionellen Maskeraden des politischen Willens, diese fatalen Mischungen von Legalismus und purer Brutalität der Mehrheit ruinieren die Demokratie, bevor sie angefangen hat. Das Parlament im „Palazzo Prozzo“ jedenfalls wird allmählich zu einer Lachnummer. Es kann es nicht lassen, sich die Verfassung als Köder vors Maul zu hängen, und dann verbietet es sich, danach zu schnappen. Die Volkskammer ist in ein wenigen Wochen zu einer Lehrwerkstatt verkommen, in der sich Dilettanten beibringen, wie man am besten Argumente mit der Geschäftsordnung unterbindet. In diesem Zustand zeigt das DDR-Parlament deutlich genug, was es als „Mitgift“ ins vereinte Deutschlad einbringt: 40 Jahre Realsozialismus.
Klaus Hartung
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