: Sodom&Gomorrha oder Hochsicherheitssex?
Die schwule Szene in der Aids-Krise: Ein Bummel durch Lokale und Treffpunkte in West-Berlin ■ Aus Berlin Elmar Kraushaar
Es ist wie mit dem Ungeheuer von Loch Ness: Vor allem zu Zeiten des medialen Sommerlochs sieht es jeder, ansonsten dümpelt das Phantom im Unsichtbaren. Jeder hat den Blick, den er will. Vor allem in Sachen Sexualität. Rosa von Praunheim, momentan in Katastrophenlaune, hat unlängst Sodom und Gomorrha in der schwulen Subkultur der Homo-Metropole Berlin wiederentdeckt. Alle vögeln ohne Präser, die Party geht weiter, als ob es Aids nicht gäbe, so die Ergebnisse seiner sexuellen Feldforschung.
„Alles Quatsch“, meint Jochen, häufiger Gast im Fickkeller von Toms Bar, an Schönebergs Homo-Zeile Golfstrom gelegen. „Wenn ich hier unten bin, hantieren die Leute eindeutig mit Parisern.“ Und, ein weiterer Jochen-Trend: Kaum einer würde noch blasen. Nicht mal küssen wäre angesagt, „obwohl das doch wirklich safe ist“. Dieter, sein Thekenpartner, sieht es ganz anders: „Neulich stand einer im Keller, nackt und mit dem Kopf zur Wand, und hielt jedem seinen Arsch hin. Ob Präser oder nicht, war dem wohl egal.“
Die Nächte werden milder, die Jagdsaison für alleinstehende Flaneure ist im Tiergarten rund um die Goldelse, Schwulen-Treff seit Kaisers Zeiten, wieder eröffnet. Klaus und Georg, zwei altgediente Frischluftfans, lieben die Parkatmosphäre mit Mondenschein, jagenden Kaninchen und glühenden Zigarettenspitzen. Beim Thema Safer Sex geraten sie aneinander: „Hier muß man ganz schön aufpassen“, so die Erfahrung von Klaus, „da gibt es immer wieder welche, die versuchen es ohne Gummi.“ „Na und, die werden schon wissen, was sie tun“, hält Georg dagegen, „und du weißt doch auch, was du tust. Oder nicht?“ Setzen die Schwulen beim Sex nun auf Nummer Sicher oder nicht? Vor Ort, das ist sicher, läßt sich nichts Genaues feststellen.
Einer, der schon den professionelleren Blick für den Hochsicherheitssex hat, ist Erika Radtke. Seit einem Jahr veranstalten er und andere aktive Tunten feiertags Safer-Sex -Parties im Kreuzberger Schwulenzentrum (SchwuZ). Zu Pfingsten, am 3. Juni, ist es wieder soweit. Die Klamotten werden an der Garderobe abgegeben, lediglich Socken sind erlaubt. Im Eintritt eingeschlossen sind ein Handtuch und Kondome frei nach Bedarf, denn Gummi ist Pflicht. Rund 150 kommen erfahrungsgemäß zur Veranstaltung, ohne Ansehen des Aussehens oder des Alters, und die abendliche Ration von mehr als 300 Präservativen ist am Morgen aufgebraucht. Ob nun jeder jederzeit das Gummi überzieht, läßt sich nicht in allen dunklen Ecken beobachten, weiß Erika, „aber bei den Orgien-Nummern ist keiner ohne. Da gibt es sowas wie einen Gruppenzwang, keiner würde es wagen, ohne Präser zu vögeln.“
Ganz professionell mit Prävention zu tun hat Klaus Tillmann, bei der Berliner Aids-Hilfe (BAH) angestellter Psychologe und zuständig für die Safer-Sex-Aufklärung unter Schwulen. Einmal pro Monat, und das seit zwei Jahren, ist er mit ehrenamtlichen Kollegen, zwei davon vom schwulen Infoladen Mann-O-Meter, vor Ort in Berlins Schwulensaunen unterwegs. Ganz der warmen Örtlichkeit angepaßt, in T-Shirt und Shorts gekleidet, sitzen die vier hinter einem Infotisch, verteilen Kondome und locken Interessierte mit Safer-Sex-Pornos via Video. „Die Leute kommen mit ganz konkreten Fragen zu Safer-Sex-Praktiken“, so Tillmann, „haben aber auch anderes auf dem Herzen. Fragen zur Partnerschaft werden ebenso angesprochen wie Einsamkeitsprobleme und Überlegungen zum individuellen Rückzug aus der Szene.“ Ganz kooperativ waren die Saunabesitzer, als die fliegenden Berater ihre Arbeit begannen, und auch die Saunagäste stehen dem Angebot durchweg positiv gegenüber.
Ähnlich erfreulich sind auch die Erfahrungen bei der Aufklärungsarbeit im nächtlichen Park. Unregelmäßig, ganz vom Wetter abhängig, ziehen die BAH-Mitarbeiter in den Tiergarten. Bunte Lampions und Kerzen weisen dann den Cruisern den Weg zum Infotisch, wo es neben dem Angebot zum Gespräch auch Bier und Selters gibt. Die Freiluftbar fördert die Kommunikation der Solisten untereinander, man redet nicht nur über Safer Sex, sondern kommt auch ins Tratschen am ansonsten schweigsamen Ort. „Damit wollen wir als Aids -Hilfe nicht nur Präsenz zeigen“, beurteilt Tillmann die Parkaktivität, „sondern auch schwule Männer erreichen, an die wir sonst nicht rankommen.“
Noch ganz andere Formen der erfolgreichen Annäherung an die schwule Klientel erproben die BAH-Aktiven seit einigen Monaten. Da ziehen sie zur Christkind-Zeit als Weihnachtsengel oder zu Ostern im Bunny-Dress durch die Sub -Lokale und verteilen Bonbons plus Kondome. Die unkonventionelle Travestie befördert das Reden der Kneipengäste miteinander, Aids und Safer Sex bleiben im Gespräch. Regen Zulauf hat inzwischen auch das Regenbogenfrühstück in den Räumen der BAH. Rund 50 kommen jeden Montag zum unverbindlichen Kontakt ohne Beratunsgüberbau zusammen. Infizierte, Erkrankte und andere, denen der Weg zur schlichten Beratung vielleicht zu steif ist, können sich bei Kaffee und Ei zwanglos austauschen.
Neben Frühstücks- und Open-air-Aufklärung gibt es - da hat von Praunheim recht - auch Partystimmung in der Szene der Berliner Aids-Aktivisten. „HIV HIV - Hurra“, heißt es einmal im Monat, Party ist angesagt im Cafe Positiv, der Kneipe der AGB Plus, einer Gruppe von engagierten HIV -Positiven. Und Partystimmung herrscht einmal im Monat freitagnachts zur Talk-Show-Zeit, nach dem Talk SchwuZ. Dazu lädt der Journalist und Rundfunkmoderator Matthias Frings regelmäßig vier Prominente ein, serviert musikalische Live-Unterhaltung zwischendurch und plaudert höchst professionell über ganz Privates und über Aids. Da redet ein Barbesitzer über die problematische Existenz von Darkrooms in Aids-Zeiten, der Fotograf Ingo Taubhorn erläutert, wie er die Safer-Sex-Propaganda richtig ins Bild setzt, und der Comicer Ralf König (über)zeichnet Knollennasenmänner im Kampf mit den Gummi-Elementen. Also doch nicht nur SchweigenTod - so der Titel eines Praunheimschen Films aus seiner Aids-Trilogie - in der Berliner Schwulenszene? Frings: „In der Szene sind weder Partytaumel noch völlige Verblödung eingekehrt, das zeigt der Besuch des Talk SchwuZ. Regelmäßig bringen es 200 Schwule fertig, hochinteressiert mehr als zwei Stunden lang zuzuhören und miteinander zu diskutieren - und das will bei Schwulen schon einiges heißen.“
Die Formel stimmt: Nichts ist mehr, wie es einmal war. Die Aids-Krise hat die schwule Gemeinde gründlich umgekrempelt. Die abstrakte Betroffenheit, die sich jeder vom Hals halten kann, der die Hochrechnungen und Todesstatistiken aus den Kurznachrichten kennt, wird für den Schwulen täglich immer wieder konkret. Da ist wieder einer gestorben, den man kennt, und der Termin für die nächste Trauerfeier macht die Runde. Die Schwulenmagazine sind voll von Anzeigen mit schwarzem Rand, und die Flure der Krankenhausstationen sind so bekannt wie die Disco-Treffs.
Ganz viel wird probiert, installiert und auch wieder verworfen, um die Trauer auszuhalten, die Verantwortung und die Bedrohung. Das Stichwort Prävention hat eine ganze Subkultur verwandelt in ein didaktisches Experimentierfeld. Mit flotten Sprüchen und bewegten Bildern der Safer-Sex -Propaganda geht es den Schwulen an die Substanz: Lernen sollen sie unter dem Druck der Verhältnisse, daß Sexualität handhabbar sei wie ein Wasserhahn. Blau ist kalt, und Rot ist heiß. Und messen wollen die Ergebnisse des neuen Verhaltens andere, mit Zahlen und Kurven, an jedem Monatsende, zu jedem Jahresschluß. Die moralische Last wird wieder zurückgeworfen auf jene, für die Aids der Alltag ist. Von Partystimmung ist da wenig zu spüren. Siehe auch Seite 10
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