: Es ist komplettiert
■ 100. Kampftag der Arbeiterklasse
Gabriele Goettle
Hiermit beginnt eine vierteilige Fortsetzung der DDR-Serie „Bitte komplettieren Sie selbst“, die am Anfang des Jahres erschien. Diesmal reisten Elisabeth Kmölniger und ich durch den Norden des Landes. Die nächste Folge erscheint am Samstag, den 9.Juni.
Am 30. April Fahrt nach Greifswald. Da der folgende Tag ein Feiertag ist, schließen die Geschäfte heute bereits um elf Uhr. Durch die Haupteinkaufsstraße drängen sich Massen von Fußgängern, beladen mit Netzen, Taschen und fächerblättrigen Zimmerpflanzen. Wer noch eine Hand frei hatte, umklammert nun ein Soft-Eis und versucht, es im Gedränge zu essen. Gegen diesen Strom bewegen sich die, die dorthin wollen, wo alle herkommen, zum Marktplatz. Hier hat sich ein „Hamburger Wochenmarkt“ ausgebreiten. Auf den ersten Blick wirkt das Treiben südländisch, man erwartet überquellende Gemüse- und Fischstände, findet aber im Gewühle nur Tische, die überfüllt sind mit minderwertiger Ramschware. Da werden Goldkettchen als Meterware verkauft; rein synthetische Jogging-Anzüge; Kunstlederjacken, denen unter der heißen Sonne ein atemberaubender Kunststoffgeruch entsteigt; vielteilige Küchenhelfer; Damenhandtaschen; Autowachs; Süßigkeiten; Herrenkosmetik und die allseits begehrten Zimmerpflanzen. Obgleich das alles nur gegen DM und zu drastisch überhöhten Preisen zu haben ist, laufen die Geschäfte hervorragend. Den vom Kaufrausch Ermatteten steht am Rande des Marktplatzes ein einziges Cafe zur Verfügung. Unter gelben Camel-Sonnenschirmen und den mißbilligenden Blicken der Wartenden verschlingen die Kleinfamilien ihre Eisbecher mit Sahne und räumen die Tische für die Nachrückenden.
Mitten im Gewimmel jemanden zu finden, der Auskunft gibt über den morgigen ersten Mai, scheint aussichtslos. Ein älterer Arbeiter endlich weiß Bescheid und erklärt uns den Weg zum FDGB-Haus, vor dem am nächsten Vormittag eine Kundgebung stattfinden soll. Es liegt zwei Kilometer außerhalb des Stadtzentrums, der Mann zuckt mit den Schultern und sagt: „Na, ich glaube nicht, daß viele hinkommen werden, und sonst ist ja nichts geplant..., eigentlich ist das ja ein bißchen enttäuschend.“ Er erklärt uns auch noch den Weg zum KKW, das in derselben Richtung liegt, und sagt zum Abschied: „Immer raus, Richtung Lubmin.“
Die für Schwertransporte sich breit dahinziehende Betonpiste zum KKW ist für die Durchfahrt gesperrt. Alle paar Meter weisen Schilder darauf hin, daß nur Betriebsfahrzeuge und Betriebsangehörige passieren dürfen. Wir beschließen, daß wir uns von hinten nähern, über kleine Ortschaften an der Küste entlang, aber auch hier stoßen wir nach einiger Zeit auf einen schmalen Betonstreifen mit den bekannten Verbotszeichen. Während wir noch beratschlagen, was nun zu machen sei, tritt eine alte Frau ans Auto und fragt, ob wir nach Lubmin möchten. Über unsere Skrupel lächelt sie und sagt: „Da fahrense mal ruhig durch, da fahren ja alle!“
Die offenbar weitverbreitete Anarchie, ehemaligen oder noch immer geltenden Sicherheitsbereichen gegenüber, beflügelt uns, und wir gelangen auf diesem Weg direkt vor den Haupteingang der „Bruno-Leuschner-Werke, VEB-KKW“. Er könnte auch zu einer Nähmaschinenfabrik gehören. Dahinter allerdings ragen die Blöcke auf. Das Gelände ist sehr groß, man fährt an einer nicht enden wollenden Betonmauer entlang, über sie hinweg sieht man ein Gewirr von Röhren, abgestellten Bauteilen, rostigen Gerätschaften. Weiter vorn ragen riesenhafte Kräne in die Höhe, hier ist die Baustelle, auf der vier weitere Blöcke entstehen. Das Ganze macht einen chaotischen, furchteinflößenden Eindruck, der auch nicht gemildert wird durch die arglos fußballspielende Betriebsfeuerwehr. Die roten Wagen und grauen Barkas -Rettungsfahrzeuge sind auf einer Wiese schräg zum Hang abgestellt, ihre Mannschaften toben hinter dem Ball her, man sieht sie förmlich vor sich, wie sie einem Kabelbrand entgegeneilen.
Die gesamte Anlage ist von Wald umgeben. Direkt neben dem Zaun, in einem üppigen Mischwäldchen, das sich an der Küste entlangzieht, liegen Ferienobjekte verschiedener Kombinate. Hinter dem Zaun, also auf dem Kraftwerksgelände selbst, ist auch ein Erholungslager mit Grillplatz und Bänken. Auf einem alten Schild läßt sich mühsam entziffern, daß es den Pionieren zugedacht ist, die offenbar hier gearbeitet haben: „...Großbaustelle...FDJ Jugendobjekt...“ Zu all diesen Ferienanlagen versperrt ein DDR-übliches Einheitstor den Zutritt, es steht sogar vor den Stasi-Ferienobjekten und täuschte Harmlosigkeit vor. Dieses Tor besteht aus einem soliden und geschlossenen Unterteil - damit man nicht durchkriechen kann, in Bauchhöhe wird es dann grazil, durch strahlenförmig um einen Mittelreifen angeschweißte Rohre. Dieses Symbol, die Sonne, ist meist in einem kreidigen Rosa bemalt, während das übrige Tor grau gestrichen ist. Ein paar Schritte neben dem Zaun des KKW-Geländes führt ein breiter Waldweg bis vor die Küste, wir fahren ihn entlang und beschließen, unter den Kiefern stehend die Nacht über zu bleiben. Bei Sonnenuntergang spazieren wir mit gemischten Gefühlen am Strand entlang, und wie um die leise Panik aufzuscheuchen, erfüllt plötzlich ein lauter werdendes Schwirren und Hecheln die Luft. Schreiend, knatternd und aufplatschend landet eine Armada von mindestens 300 Schwänen, formiert sich und schwimmt - offensichtlich im warmen und fischreichen Kühlwasser aus dem Sekundärkreislauf - auf und ab, wechselseitig Köpfe und Hälse im Wasser versenkend. Diese Idylle, zartrosa angehaucht über einem schiefergrauen Wasser, ähnelt schon sehr einer Katastrophe.
Am nächsten Morgen sind wir eine halbe Stunde vor Beginn der Veranstaltung vor dem Gewerkschaftshaus. Das Gebäude ähnelt einer Schule. Hinter allen Fenstern prangen große weiße Scherenschnitte mit Motiven zum 100jährigen ersten Mai. Vier Gewerkschaftsfahnen sind gehißt, neben dem Eingang steht ein zierliches Rednerpult, flankiert von zwei doppelt so großen schwarzen Lautsprecherboxen. Aus ihnen heraus dröhnt über den leeren Platz hinweg ein deutscher Schlager mit merkwürdig zweideutigem Text: “...ich weiß daß ich verlor, daß mit mir auch die Treue verlor, ich komm verlassen mir vor, adios Amor..., so muß das Leben wohl sein, es holt alle Verlierer mal ein...“ Das kann kein Zufall sein, - der folgende Schlager handelt vom Abschiednehmen.
In sonntäglich rosafarbenem Kleid sitzt eine Frau auf dem Mäuerchen der Universitätsapotheke. Ihr Haar ist merkwürdig unregelmäßig kurzgeschoren. Auf meine Frage, was sie voriges Jahr am ersten Mai gemacht habe, antwortet sie freundlich: „Ich wurde geschlagen.“ Schnell fügt sie hinzu: „Heute bin ich arbeitslos, fristlos gekündigt! Aber die Unterstützung nehme ich nicht! Mit mir nicht!“ Sie krempelt den linken Ärmel hoch und zeigt kommentarlos auf die Innenseiten ihres Handgelenks, an dem mehrere dickwülstige rosafarbene Narben nebeneinander prangen. „Hab‘ keine Arbeit, kein Einkommen..., und schwanger bin ich auch schon wieder!“ ruft sie fast lachend aus. In der weiteren Erzählung stellt sich heraus, daß der Mann im November in den Westen ging, sie mit drei Kindern sitzenließ, die man ihr nach dem ersten Selbstmordversuch wegnahm und in ein Kinderheim steckte. Die weiteren Selbstmordversuche hat sie in der Nervenklinik gemacht, was zu immer längerem Aufenthalt führte. Ihre Arbeit in einer Wäscherei ist sie los, für den Vormittag hat sie Ausgang bekommen.
Allmählich kommen ein paar Kundgebungsteilnehmer, einzelne Arbeiter, junge Kleinfamilien. Eine uniformierte Kapelle nimmt Aufstellung, mit Trommeln, Trompeten, Posaunen und Susaphon, das Fanfarenorchester der Reichsbahndirektion Greifswald. Ich frage einen Rentner nach dem 1. Mai vergangenen Jahres, und er erzählt bereitwillig: „Wissense, das war so, voriges Jahr, da hat ja alles noch in der Stadt...Aufmarsch und so..., der ganze Betrieb. Dann wurden die Ansprachen gehalten, dann gab's ein Winken und Vorbeimarschieren und eine kleine Festveranstaltung vom Betrieb, sowas. Das nun hier...ich will mal ehrlich sagen, da bin ich enttäuscht. Ob noch was kommt, ich weiß es nicht. Und auch der Platz hier, hier war nie ein erster Mai! Aber auf unserem Platz ist ja jetzt ein Hamburger Wochenmarkt...das ist ja auch nicht in Ordnung sowas, hätte man auch anders organisieren können alles. Also, ich bin wirklich enttäuscht...das alles hier, die hundert Jahre, das ist doch ein Datum! Und dann sowas! Die Parteien...nee, da läßt sich keiner blicken. Und die Betriebe? Nichts! Damals, da haben wir immer was gemacht, Mai-Feier, Biergarten...sowas. Diesmal, gar nichts! Niemand hat was gesagt, niemand fragt. Angst ham sie alle, sogar vor 'ner Betriebsfeier! Na, wir ham unsere Mai-Feier vorgezogen in der Gartenkolonie. Gestern abend hatten wir ein Wildschwein am Spieß..., das hat jemand organisiert, war schon im Herbst abgesprochen. Das war wunderbar...dann, nachher, gegen Morgen, wurd's schon etwas kühl.“
Zwei Herren in hellen Anzügen, frisch rasiert, duftend und mit weißen Schuhen stehen vor dem Mäuerchen und betrachten mit unbeweglichen Mienen das Treiben. Es stellt sich heraus, die Herren sind Russen. Ihr höfliches: „Wir sprechen sehr schlecht, leider...“ geht in den Fanfarenstößen der Reichsbahnkapelle unter. Man spielt, offensichtlich in Ermangelung eines adäquaten Repertoires - und das sozialistische ist ja nicht mehr brauchbar - „Nun Brüder eine gute Nacht...“. Es klingt sehr schmissig, kann aber über den Mißgriff dennoch nicht hinwegtäuschen, im Publikum raunt es schon höhnisch.
Zwei ältere Gewerkschafter mit roter Nelke im Knopfloch wirken dennoch ergriffen. Befragt, sagen sie, sie seien zufrieden: „Vielleicht bis auf...es könnten eigentlich noch mehr kommen. Wir ham ja noch Zeit. Da kann ja noch einiges kommen...vielleicht liegt's auch am Platz hier, sonst waren wir ja immer auf dem Markt...“ Der zweite Gewerkschafter wirft ein: „Da ist jetzt ein westdeutscher Markt auf unserem Platz, da verkaufen sie uns, was die drüben nich mehr losschlagen können, so ist das!“ Der andere ergänzt: „Die nehmen uns aus, es ist eine Schande! Verlangen für einen Karton Negerküsse, zehn Stück, 15 Westmark. Und wenn man bedenkt, eine Dose Spargel kostet bei Aldi drüben vielleicht 3,50, die verkaufense fürs Dreifache...und wir müssen hier...außerhalb der Stadt...eine Schweinerei ist das! Und noch was. Hätte der FDGB nichts gemacht, dann wäre hier überhaupt nichts gewesen.“ Die Kapelle spielt einen preußischen Marsch.
Elisabeth kommt, glühend vor Wut, zum wiederholten Mal ist ihr ein Film von VEB-Wolfen beim Zurückspulen gerissen, sie muß zum Auto und ihn unter den Hundedecken aus der Kamera angeln. Da habe ich es leichter. Mein nächster Interviewpartner, ein Arbeiter Anfang Fünfzig, mit großporiger roter Nase und riesigen Händen, scheint nach anfänglichem Mißtrauen geradezu erfreut über die Abwechslung: „Ja, was hab‘ ich voriges Jahr am ersten Mai gemacht? Wie soll ich sagen, ich bin mitmarschiert mit meinem Betrieb, das erwartete man ja von uns. Es waren natürlich mehr Menschen als heute, und es war auf dem 'Platz der Freundschaft‘. Da ist dann immer die Tribüne, da stehen die Prominenten, und die Ausgezeichneten, man defiliert vorbei, und danach ist dann was los. Im Betrieb war es so. Da ham wir uns vorher getroffen, bevor man zum Stellplatz ging, denn da wurden zuvor die Auszeichnungen vorgenommen für vorbildliche Leistungen und so, dann gingen wir los. Ich bin jetzt bei GHG-Textilien hier in Greifswald, da ham sie für diesmal gar nichts gemacht, das Thema gab's nich. Naja, die Betriebe ham nun im Moment eben ganz andere Sorgen.
Sehn Sie, ich wohne hier draußen in Schönwalde, in dieser großen Siedlung, die damals für die Belegschaft der Leuschner-Werke, dem Kraftwerk, gebaut worden ist. Ich will Ihnen was sagen, ich habe da heute morgen in der ganzen Siedlung nicht eine einzige Fahne hängen sehn, vollkommen anders als früher. Das sind hier die ersten, die ich heut‘ sehe, und in der Stadt isses nicht anders. Ich selber hab‘ ja auch Fahnen im Keller, weil ich dieses Jahr bei uns den Haus-Vertrauensmann mache. Den ganzen Abend über hab‘ ich gestern überlegt, häng‘ ich sie raus, häng‘ ich sie nich raus. Das sind ja nicht nur rote Fahnen, auch DDR-Fahnen, und da frag ich mich, sind die nun noch gültig oder nicht?! Die andere haben wir ja nicht. Und dann, vielleicht werden sie mir abgebrannt, was weiß man, dann darf ich sie bezahlen am Ende. Also habe ich nichts rausgehängt. Andererseits, die rote Fahne hätte man auf alle Fälle raushängen können, ist ja der Kampftag der Arbeiter, daran ist ja nichts auszusetzen. Ich hab‘ die ganze Zeitung gelesen, aber es stand nichts drin über Fahnen zum ersten Mai. So geht das bei uns, und auch ich hänge zwischen Baum und Borke. Die haben zu mir gesagt, was machst du dir Sorgen, der Flaggenzwang ist abgeschafft seit Anfang des Jahres, wir ham sowieso genug davon gesehen, aber das finde ich nicht richtig, daß alle nun so tun, als hätten wir ein Flaggenverbot, dabei soll doch jetzt alles frei entschieden werden.
Ich muß ehrlich sagen, ich kenne mich nicht mehr aus. Genauso mit den Kommunalwahlen. Das schießt ja jetzt wie Pilze aus dem Boden, das Neue. Da haben sie neulich in der Zeitung die Vertreter vorgestellt..., ich hab‘ mir wirklich Mühe gemacht und alles genau gelesen, aber, glauben Sie mir, ich kenne da nich einen von denen. Lauter neue Gesichter. Bin ja nun schon lange hier, kenne fast alle..., aber nun...wirklich, da weiß man doch nicht, was man wählen soll? Und überhaupt, wenn ich das mal sagen darf, sind das nun wieder keine richtigen Wahlen, denn es wird ja alles von drüben, vom Westen her entschieden. Deshalb sind auch hier sowenig Leute, die sitzen lieber gemütlich in der Sonne und wissen dann, daß ihnen niemand was vorerzählt.
Ich war ja mal neugierig. Gestern hatte ich Küchendienst, heute macht meine Frau - so teilen wir uns das ein zu Hause
-dachte ich, gehste mal, schauste das mal an. Ich war ja immer dabei. Und das ist ja auch so...in diesem geballten Wohngebiet in Schönwalde...man kann ja nicht den ganzen Tag in der Wohnung sitzen, und draußen ist alles 0815. Schönwalde I und II, alles das gleiche, da wohnen einige Tausend auf einem Haufen und nichts! Es gibt da nur eine Kneipe, und offen hat die auch nicht immer. Von allem zuwenig, keine Kulturstätte, nichts.
Ich habe ja eine AWG-Wohnung (Arbeiter-Wohnungs -Genossenschaft), die hab‘ ich praktisch bezahlt. Also früher, als die Kinder noch da waren, da hatten wir die Zweieinhalb. Dafür habe ich 590 Stunden geleistet und 2.400 in bar bezahlt. Das ist ein ganz schöner Klotz am Bein, wenn man die 590 Stunden in der Freizeit ableisten muß. Dann ham wir getauscht und eine Eineinhalb genommen, aber der, mit dem wir getauscht haben, der mußte trotzdem nochmal einen Teil Stunden ableisten, obwohl ich die ja sozusagen schon gemacht hatte. Das fand ich ungerecht.
Aber nun fühlen wir uns wohl. Das ist schon schön, ich hab von Kindesbeinen an auf dem Dorf gewohnt, habe Hufschmied gelernt und immer war alles nur ganz primitiv. Und nun, man kommt nach Hause, die Stube ist warm, man muß sich nicht um Brennmaterial kümmern, alles ist sauber, und wenn man das Bedürfnis hat, geht man einfach in die Wanne, sehr schön ist das. Die Wohnung ist nun zwar meine, aber ich kann sie nicht verkaufen oder vererben, so schreibt es die Genossenschaft vor.
Naja, und daß wir so nah am Kraftwerk sind, das macht mir eigentlich nichts, wir haben ja bessere Sicherheitseinrichtungen als die Russen, jedenfalls sagen sie uns das. Da ist der Deutsche ja allgemein etwas pingeliger, mit diesen Sachen. Ich glaube eigentlich nicht, daß da mal was passiert, sonst hätten sie ja die eigenen Leute nicht da untergebracht, stimmt's nicht? Ne, darunter leidet hier niemand, aber was versäumt worden ist hier, das ist die Gastronomie, das Kulturelle, damit sieht's schlecht aus. In Greifswald zum Beispiel, da ist nur noch ein Kino. Darunter leiden wir. Und in unserer Kaufhalle, aber auch in den Geschäften in Greifswald ist die Belieferung seit einiger Zeit sehr schlecht. Mal gibt's kein Fleisch, keinen Fisch..., woran das liegt, ich weiß es nicht. Früher war unsere Belieferung gut.
Und sonst... ich hätte beispielsweise gern so ne kleine Datsche, aber daran ist nicht zu denken. Eine Neuerschließung kann ich mir nicht leisten - gesundheitlich, wegen dem Rücken - und für eine fertige habe ich das Geld nicht. So zwischen 10.000 und 15.000 kostet ein fertiger Garten mit allem, was hingehört. Das hab‘ ich einfach nicht, leider. Ich bin jetzt manchmal müde, sowas gab's bei mir früher gar nicht...hab noch fünfzehn Jahre bis zur Rente, und wer weiß, was noch alles passiert, ob der Betrieb weitermacht, das weiß bei uns heute ja niemand...so, es geht ja los...mal hören was sie sagen...“
Die Kapelle, zu der sich unterdessen noch eine ebenso umfangreiche Gruppe der freiwilligen Feuerwehr Greifswald hinzugesellt hat, stellt sich im Halbrund auf, und alle blicken zum Rednerpult, auf dem eine Frau nun die Kundgebung eröffnet: „Ich begrüße Sie recht herzlich zum 1. Mai, der sich heute zum hundertsten Mal jährt. Unser Motto lautet: Arbeit für alle, Mitbestimmung, soziale Sicherheit.“ Ein Sprecher der Sektion Gesundheit und Soziales ruft zum Eintritt in die neu zu schaffenden Gewerkschaften auf, erntet aber erst dann etwas dürren Beifall, als er dazu auffordert, diese „Organisation zur Vergabe von Ferienplätzen“ umzustrukturieren zu einer Kampforganisation der Arbeiter in der neu entstehenden freien Marktwirtschaft. Alle müßten dafür sorgen, für eine wirkliche soziale Gerechtigkeit. Ihm folgt eine junge Gewerkschafterin vom KKW Bruno Leuschner. Bei den brisanteren Themen erhofft man sich offenbar durch weibliche Besetzung eine gewisse Pufferwirkung. Die Kollegin geht auch feurig zu Werke: „Leider haben die Diskussionen um das KKW Greifswald, ausgehend von politischen Kräften, zu Angst und Unsicherheit geführt...“ Die helle Stimme verklingt ziemlich ungehört im zunehmenden Gemurmel der Menge, man begrüßt Bekannte, die Kinder rasen kreischend zwischen den Beinen der Erwachsenen hindurch und blähen stolz die Brust unter den bedruckten West-T-Shirts.
Zum Abschluß spricht ein BRD-Gewerkschafter, Bezirksleiter der Eisenbahner aus Hamburg. Ihm brandet schon vorher Applaus entgegen, es wirkt wie Erleichterung darüber, daß nun endlich ein Fachmann spricht, der berichtet, wie es in Zukunft gehen wird. Seine Rede ist lang, vorgetragen mit fester Stimme, der kein Zweifel anhaftet. Im wesentlichen umspielt er das Verhältnis Unternehmertum und Gewerkschaft, das bestimmt sei durch ein ausgewogenes Kräfteverhältnis, er erklärt den verzagten Anwesenden, daß die soziale Marktwirtschaft in der BRD nur deswegen funktioniere, weil die Gewerkschaften das Soziale immer wieder neu erkämpfen und vorwärtstreiben.
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