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1.279.600 PUNKTE

■ Herzklopfen vor dem ersten Ball

Der Wahnsinn schlägt spätestens zu, wenn man die Frage „Wollen wir flippern?“ mit Ja beantwortet. Und dann sollte man sich auch gleich voll und ganz auf das Spiel einlassen. Nicht erst versuchen, die aufkommende, längst durchs Blut fließende Leidenschaft am Aufschäumen zu hindern. Nur mal versuchen, na ja, zwei Stunden, nicht länger, iss nich! Los geht's, wenn der Tagesstreß abgelegt ist, wenn man richtig gut drauf ist. Der geübte Flipper(er) an deiner (meiner) Seite kennt seinen Weg. Rein in den Laden. Das Licht fällt durch einen rosa Schleier, der Raum ist kaum auszumachen. Toll. Die Atmosphäre erinnert an die schlechten Filme im TV. Aber ausgerechnet heute ist Kulturprogramm angesagt. Schade, das war der beste Laden. Egal. Längst wird in Gedanken der nächste Ort angepeilt, 'ne ganz normale Kneipe. Gleich rechts in der Ecke der erste Kasten - dunkel, ruhig, eher ein abgestelltes Möbelstück. Nur ein kurzer Blick. Weiter nach hinten durch. Der zweite Automat. Unauffälliges Besitzergreifen. Lässiges Standbein/Spielbein, den Kasten im Blick. Ein Bier. Die Konzentration der Frauen beim Hin- und Herschieben und Rumwirbeln der Fußballspieler an den Stangen belächeln. „Woll'n wir?“ - „Klar, sofort.“ Schnell den Platz wechseln, denn nur der Flipperautomat an der Tür funktioniert. Jeder in der Runde könnte sonst vor uns da sein.

Das erste Herzklopfen. Der Fachmann erklärt. Sinnlos, wenn die Lichter schon blinken. Okay, erst du, dann ich. Die Kugel rollt. Für mich nur irgendwohin, keine Ahnung, was die Punkte bringt. Mein erster Ball. Flipper auf und zu. Nicht lange. Das erste ungläubige Achselzucken, als der Ball verschwindet. Rechts neben dir hab‘ ich Glück, du links von mir bei meinem Spiel. Anheizen. Beim nächsten Spiel schon zu dritt, dann zu viert. Zeit, auf das zu achten, was die Kugel macht. Das Blinken und die Zahlen bleiben nicht mehr rätselhaft. Die erste Wut über den verschossenen Ball, die eigene träge Reaktion. Der Kasten mit den Flipperknöpfen und der Körper werden eins. Alles andere wird zur undefinierbaren Kulisse. Nur die Musik und der Geruch nach Gras machen an. Der Ehrgeiz hat mich längst gepackt, das flimmernde „earthquake“ verwirrt nicht mehr. Meine Punkte und die der anderen stehen zum Vergleich. Also muß die Kugel von mir ihre Richtung kriegen. Bei meiner ersten Million flipp‘ ich aus. Noch ein Spiel und bestimmt nicht das letzte. Die Frauen werden rationeller - weniger Bier, lieber mal 'n Kaffee, hinsetzen. Blick in die Kulisse: mein Gott, müde, abgefuckte Gestalten. Zurück. Endlich ein Freispiel. Für alle. Bloß nicht verschenken. Die Koordinierung funktioniert. Die Augen verfolgen das Spiel, die Finger bewegen die Flipper. Rechts, links, die richtige Bahn. Punkte. Hoch, runter, grade noch mal so. Rasseln. Blinken. Weiter. Es ist nicht mehr klar, wer flippt. Aus. 1.279.600 Punkte mit einem Ball. Super. Noch ein Spiel. Wirklich das letzte. Ich an vierter Stelle, um das Spiel am Ende für mich zu machen.

Selbst vor der Tür noch das gegenseitige Zuschieben der Entscheidung: gehen oder vielleicht doch noch ein Spiel. Der neue Tag hat längst sein Licht. Vernunft. Versprechen auf das nächste Mal. Wahnsinn.

marie

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