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Nacht des Protestes an der Peking-Universität

Hunderte von Studenten erinnern an der Pekinger Beida-Universität an die Niederschlagung der Demokratiebewegung / Extreme Sicherheitsvorkehrungen / Festnahmen von Demonstranten und Mißhandlungen von Journalisten / Stadtmitte hermetisch abgeriegelt  ■  Aus Peking von Boris Gregor

Zuerst flogen Flaschen aus dem Wohnheim der Doktoranden und zerschellten auf dem Pflaster - Protest gegen den 85jährigen KP-Patriarchen Deng Xiaoping, dessen Vorname je nach Aussprache „kleine Flasche“ oder „kleiner Frieden“ bedeutet.

Kerzen wurden angezündet, Papiergeld nach chinesischer Tradition zum Gedenken an die Toten verbrannt. Dann ertönten Rufe nach „freien Wahlen“ und gegen den verhaßten Ministerpräsidenten: „Li Peng, tritt zurück!“ Die Internationale erklang. Schließlich formierte sich ein Demonstrationszug aus mehreren hundert Studenten, die über das Gelände der renommierten Pekinger „Beida„-Universität marschierten. Der stellvertretende Parteisekretär der Hochschule versuchte vergeblich, die Demonstranten zur Rückkehr in die Wohnheime zu bewegen.

Der 21jährige Wirtschaftsstudent Li Minqi, im vorigen Jahr einer der Aktivisten, hielt eine kurze Ansprache, in der er die Rückgabe der der Fabriken und Felder an Arbeiter und Bauern sowie bessere materielle Bedingungen für Intellektuelle forderte. Drei Zivilbeamte führten ihn ab. Sein Schicksal ist bis zur Stunde unklar. Sonst griff die Polizei soweit bekannt auf dem Campus nicht ein. Offenbar waren die Uniformierten angewiesen, keine weiteren Demonstrationen zu provozieren.

Außerhalb der grauen Beida-Mauern dagegen war die Staatsmacht aktiver. Streifenwagen rasten hin und her, Rotlicht flackerte. Ausländische Journalisten und andere Schaulustige wurden heftig bedrängt, einige vor dem Südtor niedergeschlagen, Fotoapparate gingen zu Bruch. Der gestrige morgendliche Protest zum ersten Jahrestag des Massakers zeigte, daß die Widerstandskraft der Studenten trotz drohender Repressalien wie Gefängnishaft und Studienausschluß, trotz von der Partei verordneter „Selbstkritik“ und intensivem Politikunterricht noch nicht gänzlich erloschen ist.

Für manche Pekinger ging der Widerstand an der Beida weit über das hinaus, was sie erwartet hatten: „Die Hochschüler zeigten den Genossen, daß die Ruhe im Land trügerisch ist“, sagte ein Hauptstädter.

Gestern Mittag war der Campus wieder im sommerlichen Schlaf versunken. Nur einige Zivilbeamte gingen Streife durchs Hochschulgelände. Drei von Korrespondenten angesprochene Studenten verweigerten ängstlich jegliche Auskunft über das Geschehen der vergangenen Nacht. Ein Hochschüler allerdings berichtete unerschrocken trotz mißtrauischer Beobachter über die Demonstration.

Einer seiner Kommilitonen trug, ebenso mutig, ein gelbes T -Shirt mit der Losung der Studentenbewegung des Vorjahres: „Demokratie und Wissenschaft.“ Auch andere Bürger gedachten auf ihre Weise der brutalen Niederschlagung der Demokratiebewegung. Einige warfen im Zentrum Pekings das traditionelle Papiergeld aus einem Auto. Ein Mann wurde am Sonntag festgenommen, als er vor der Verbotenenen Stadt ein Plakat zeigen wollte. Eine Frau kam in Polizeigewahrsam, weil sie westlichen Journalisten Flugblätter zugesteckt hatte.

Dabei hatte die Regierung in den letzten Tagen die Sicherheitsmaßnahmen im Stadtzentrum und im Universitätsviertel bis ins Absurde getrieben - jede Unmutsäußerung sollte im Keim erstickt werden.

Die Bürger wurden an ihren Arbeitsplätzen gewarnt, nicht den Platz des Himmlischen Friedens zu besuchen. Der Schauplatz der Demonstrationen und Hungerstreiks war gestern, wie schon in den letzten Tagen, aus fadenscheinigen Gründen gesperrt worden.

Gestern diente er als riesiger Parkplatz für Busse und Limousinen: In der Großen Halle des Volkes fand eine Versammlung für Pekings Chauffeure statt, in der sie über die Verkehrssicherheit während der Asienspiele im September informiert wurden. Vor der Verbotenen Stadt patroullierten Zivilbeamte und Uniformierte, von der Roten Mauer des Kaiserpalasten beobachteten Polizisten mit Ferngläsern die Umgebung. Jeder Besucher, einheimischer Tourist oder ausländischer Journalist wurde mißtrauisch beäugt. An der großen Halle des Volkes und an den Straßenkreuzungen waren Polizeiwagen und Motorräder aufgefahren. In den Seitenstraßen des Tiananmen-Platzes standen Feuerwehren bereit, mißliebige Bürger mit Wasser zu verjagen.

An den Haltestellen der Busse waren Polizeioffiziere postiert, die unter den aussteigenden Fahrgästen potentielle Unruhestifter suchten. Vor dem Revolutions- und Geschichtsmuseum probten gestern morgen, wie schon in den vergangenen Wochen, Soldaten Marschformationen, am Sonntag abend waren dort Polizisten mit mannshohen, olivgrünen Schildern aufgereiht.

Mit Stahlhelmen und Maschinenpistolen ausgerüstete Polizisten fuhren auf Motorrädern durch die Straßen, an wichtigen Punkten kontrollierten sie Fahrzeuge. Die Partei begründete die Sicherheitsvorkehrungen mit Chinas Bedürfnis nach Ruhe und Ordnung. Und das KP-Organ 'Volkszeitung‘ titelte: „Stabilität geht über alles.“

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