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Der Sozialismus ist tot - es lebe der...

Die 11. Berliner Volksuni diskutierte die Zukunft des Sozialismus / Negt: Alles muß neu erdacht werden / Utopie nicht in die innere Emigration abdrängen / Gregor Gysi und Ökosozialist Eckhard Stratmann im Ring  ■  Von Wolfgang Gast

Berlin (taz) - Oskar Negt, Soziologieprofessor an der Universität Hannover, dürfte den meisten der BesucherInnen der 11. Berliner Volksuni aus tiefster Seele gesprochen haben: „Ich fühle mich nicht wohl bei dem Zusammenbruch eines Systems, das ich immer kritisiert habe.“ Im rasanten Prozeß der Vereinigung bestehe nun nämlich die Gefahr, daß „die Idee Sozialismus in die innere Emigration getrieben wird“. Zum Auftakt von mehr als 100 Seminaren, Podiumsdiskussionen, Austellungen und Workshops beklatschten am Freitag abend Hunderte den Festvortrag. Negts Plädoyer: Für eine Langsamkeit des Denkens gegenüber der Beschleunigung der politischen Prozesse. „Alles muß neu durchdacht werden“, und die notwendige Reflexion über den Untergang des real existierenden Sozialismus dürfe sich „nicht am industriellen Rhythmus orientieren“.

Die zentralen Fragen des Jahrhunderts - die Soziale, die der Demokratie und die nach der individuellen Emanzipation der Menschen - hätten weiter Bestand. Die „Jahrhundertidee Sozialismus“ sei in ihren „charakteristischen Zügen“ dagegen noch nicht verwirklicht worden. Das Dilemma der Linken ist für Negt offensichtlich: Sie kann nicht zu den alten Formen zurück, sie kann sich aber auch nicht von ihnen trennen. Mit anderen Worten: Das Projekt Sozialismus ist nicht so schlecht, wie die eben zugrunde gehende realsozialistische Ära. Neu gedacht werden müsse nun der Begriff des Fortschritts. Unter der realsozialistischen Formel des „Ein und Überholens“ der kapitalistischen Produktionsweise sei er lediglich zum „Schattenreich des Sozialismus unter kapitalistischem Etikett“ verkommen. Das Schlimmste was der Linken in der Bundesrepublik nun passieren könne, schrieb Negt den SozialistInnen ins Stammbuch, sei ein „kollektiver Gedächtnisverlust“, der Abschied von einem Ideal, für das Menschen immerhin auch gestorben sind. „Wenn wir die Idee Sozialismus verabschieden, weil sie beschädigt ist“, dann dürfte beispielsweise kein Christ das Wort Christentum je wieder in den Mund nehmen. Alle großen Ideen hätten im 20. Jahrhundert ihre Unschuld verloren.

Im vollbesetzten Auditorium erntete Oskar Negt minutenlangen Beifall. Geschichtlich gesehen sei es nicht das erste Mal, daß aus den Trümmer eines falschen Weges eine neue Bewegung entstünde, sagte er weiter. Seine Hoffnung für die Linke: „Vielleicht stehen wir nicht am Ende, sondern am Anfang einer sozialistischen Utopie.“

„Der Sozialismus ist tot - es lebe der Sozialismus?“ Heinrich Fink, Rektor der Ostberliner Humboldt-Universität, würdigte das Motto der Volksuni humorvoll als einen „hervorragenden theologischen Satz“. Für Fink, selber Theologe, war klar, „die Idee des Sozialismus darf nicht sterben“, auch wenn das „Erstgeburtsrecht“ daran in Deutschland „billig verschleudert wurde“. Die Utopie sei in der DDR daran gestorben, daß „eine Partei wußte, was Sozialismus ist“. Selbst „innerhalb des Sozialismus sah man den Sozialismus als Feind an“.

Über Begriff und Inhalte eines „Demokratischen Sozialismus“ sollten ursprünglich am Samstag PDS-Chef Gregor Gysi und die stellvertretende SPD-Vorsitzende Herta Däubler-Gmelin streiten. Weil die SPD-Frau kurzfristig ihre Teilnahme absagte, kam es dazu leider nicht. An ihrer Stelle stieg der Grüne Eckhard Stratmann in den Ring. Einig waren sich der PDS-Chef und der Ökosozialist, daß am „Projekt Vergesellschaftung“ festgehalten werden müsse. Gysi: „Das Privateigentum kann nicht die letzte Antwort der Geschichte sein“. Heftig in die Wolle kamen sich beide in der Frage der Glaubwürdigkeit und der Notwendigkeit der Partei des Demokratischen Sozialismus.

Wo Gregor Gysi auf eine starke linke sozialistische Partei setzte („ein einheitliches Deutschland braucht eine PDS“), klagte der Grüne Stratmann eine „radikaldemokratische Linke

-ökosozialistische Kraft“ ein. Daß eine neue Partei oder eine gesamtdeutsche PDS notwendig sein soll, bestritt er entschieden. Er betonte weiter den „Doppelcharakter“ des Volkskammerbeschlusses vom letzten Donnerstag, mit dem das Vermögen aller DDR-Parteien der Treuhandschaft einer Regierungskommission unterstellt wurden. Einerseits sei bei dem „Putschismus in der Volkskammer“ eine politische Forderung auf „unerträgliche Weise durchgezockt worden“, andererseits müsse sich die PDS aber fragen lassen, was sie selber beigetragen habe, um diese Zuspitzung zu vermeiden, sagte Stratmann. Schließlich sei die PDS eine Offenlegung ihres zu Unrecht erworbenen Vermögens in den vergangenen Monaten schuldig geblieben.

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