: Die Ehe gefährdet die Gesundheit
Frauen in der Psychiatrie - Tagung der „Deutschen Gesellschaft für soziale Psychiatrie“ ■ Von Ulrike Helwerth
„Verrückt“, „paranoid schizophren“, „psychotisch“, „wahnhaft“: fast schien die geschockte Öffentlichkeit erleichtert, daß die Frau, die das Messer gegen Oskar Lafontaine führte, keine politische Attentäterin, sondern eine arme Irre war. Zwar hatte Adelheid Streidel ausgesagt, sie wollte einen Politiker töten, um „ein Zeichen zu setzen“, um aufmerksam zu machen auf die Zurichtung und Vernichtung von Menschen in „Menschentötungsfabriken“ und „unterirdischen Operationssälen“. (Und ihre „Wahnvorstellungen“ gehen nicht völlig an den realen Geschehnissen in den Folterkammern, Gefängnissen und Irrenhäusern dieser Welt vorbei).
Adelheid Streidel aber galt seit Jahren als „paranoid schizophren“, hatte auch schon in der Psychiatrie gesessen. Damit ist sie ein für allemal entmündigt. Als wahnhaft wurde auch ihre Angst vor männlicher Verfolgung und Gewalt abgetan. So als existiere diese Gewalt real gar nicht, als sei ihre Angst nur das Resultat ver-rückter sexueller Phantasien und Wünsche. Über Adelheid Streidel und ihre Krankheit wurde viel geschrieben. Kaum aber etwas über die erlittenen Verletzungen, die sie letztendlich zur Tat schreiten ließen. Bemerkenswerterweise richtete sie ihre Aggression nicht gegen sich selbst, wie bei Frauen üblich, sondern - typisch männlich - nach außen. Eine unerhörte Normenverletzung. Wieviele „normale“ Frauen mögen ihr klammheimlich oder offen Beifall gezollt haben? Seltsam also, daß ihr „Fall“ unerwähnt blieb.
Dabei lautete der Titel des diesjährigen „Mannheimer Kreises“, der Fachtagung der „Deutschen Gesellschaft für soziale Psychiatrie“ (DGSP), doch Frauen in der Psychiatrie. Ein Thema, das längst überfällig war, wie die über 650 TeilnehmerInnen bewiesen, die vom 24. bis 27. Mai im Landeskrankenhaus Schleswig zusammenkamen. Die meisten Krankenschwestern und Sozialarbeiterinnen, aber auch Psychologinnen und Psychiaterinnen - aus Krankenhäusern, ambulanten Einrichtungen und von freien Trägerinnen. Sicherlich war es kein Feministinnentreff - aber tonangebend waren sie allemal. Mit nichtneuen sozialpsychologischen Thesen zur Zurichtung und Entwertung der Frau durch patriarchale Normen, zu den krankmachenden Ambivalenzen weiblicher Sozialisation verschafften sie (unter anderem Birgit Rommelspacher, Dozentin an der Fachhochschule für Sozialarbeit in West-Berlin, und die Professorin Ilona Ostner von der Uni Bremen) vielen begeisterten Zuhörerinnen immer noch einige Aha-Erlebnisse.
Frauen häufiger „gestört“
84 Prozent der Beschäftigten im Sozial- und Gesundheitswesen sind Frauen. Dennoch sitzen auf den oberen Posten immer noch ganz überwiegend Männer. Das Verhältnis zwischen Patienten und Patientinnen ist in der stationären Psychiatrie etwa gleich. Doch in ambulanter Therapie werden drei- bis viermal mehr Frauen als Männer behandelt. Bei Frauen werden etwa doppelt so häufig psychische Störungen diagnostiziert. Sie bekommen doppelt so häufig wie Männer Schmerz- und Beruhigungsmittel verschrieben.
Die Diagnosen, die zur Rezeptierung von Psychopharmaka führen, werden zu 90 Prozent von praktischen ÄrztInnen und InternistInnen und zu sieben Prozent von PsychiaterInnen gestellt. 80 Prozent der niedergelassenen ÄrztInnen aber sind Männer. „Die Definition von Frausein unterliegt patriarchalen Normen. Männer entscheiden, was krank und was gesund ist“, stellte Elisabeth Pahl, Nervenärztin und Psychotherapeutin (Bremen) in ihrem Vortrag Wie geraten Frauen in die Psychiatrie? fest. Ein wichtiger Krankheitsfaktor ist dabei die Ehe. Rund 75 Prozent der therapeutische Hilfe suchenden Frauen sind verheiratet, 25 Prozent ledig. Bei den Männern hingegen ist das Verhältnis gerade umgekehrt. Suchtkrank zum Beispiel werden wesentlich häufiger verheiratete als unverheiratete Frauen, vor allem aber ledige Männer. Die Ehe stabilisiert also den Mann psychisch und wird dadurch zur „Berufskrankheit“ der „Beziehungsarbeiterin“ Frau.
Als Beweis für den herrschenden „Doppelstandard seelischer Gesundheit“ zitierte Elisabeth Pahl aus einer Studie aus den USA. Eine Gruppe von KlinikerInnen war zu ihren Vorstellungen über gesunde, erwachsene Männer, Frauen und Menschen allgemein befragt worden. Während die Antworten bezüglich des Mannes und des nicht geschlechtsspezifischen Erwachsenen so gut wie identisch waren, wichen sie bezüglich gesunder erwachsener Frauen erheblich ab: Frauen neigten demnach mehr zur Unterordnung, waren weniger unabhängig, weniger abenteuerlustig, leichter zu beeinflussen, weniger aggressiv, leichter erregbar, weniger konkurrent, weniger objektiv, leichter gekränkt, emotionaler, eitler, weniger an Naturwissenschaften und Mathematik interessiert.
Um als gesund zu gelten, müßten sich Frauen an Werte anpassen, die in der Regel gesellschaftlich weniger angesehen und erwünscht seien. Frauen hingegen, die männliche Verhaltensweisen zeigten, würden geächtet, schlimmstenfalls psychiatrisiert, so Elisabeth Pahl. Als Beispiel erzählte sie eine Begebenheit aus ihrer Zeit als Ärztin in der Psychiatrie: In einer Arbeitsbesprechung trug eine Kollegin eine Beschwerde vor - wütend und laut. Die Kollegen reagierten zunächst mit Nichtbeachtung, dann mit Lächeln. Schließlich riefen zwei im Chor: „Haloperidol!“ (Haloperidol wird bei schizophrenem Verhalten verabreicht.) Daß der Direktor des Krankenhauses sich täglich betrunken hätte, sei hingegen „stillschweigend hingenommen“ geworden.
Buh-Rufe für „Päpste“
Wie männlich ist die Psychiatrie?, fragte der Untertitel der Tagung, zu der ausdrücklich auch Männer geladen, aber kaum gekommen waren. Zur besten Redezeit sollten zwei „Psychiatriepäpste“ und Mitgründer der DGSP Stellung nehmen zum Thema Psychiatrie und Macht. Klaus Dörner, Leiter des Westfälischen Landeskrankenhauses, zog sich auf die Historie zurück und verstrickte sich dabei in Ausführungen über Paul Möbius, bekannter Nervenarzt im letzten Jahrhundert und Autor des viel beachteten Klassikers: Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes (1900). Den hatte Möbius durch Gewichtsvergleiche von männlichen und weiblichen Gehirnen „wissenschaftlich“ bestätigt gefunden. Die also von Natur aus geistig minderbemittelten Frauen gehörten daher - in ihrem ureigenstem Interesse versteht sich - vor Bildung und außerhäuslicher Erwerbsarbeit geschützt, empfahl Möbius. Gelehrte und künstlerische Frauen galten ihm als „Entartung“.
Dörner bescheinigte Möbius den „Mut, ganz radikal auszusprechen“, was viele Männer auch heute noch in ihren Köpfen hätten. Der Referent wollte - das sei ihm wohlwollend unterstellt - Möbius als extremes Beispiel männlichen Überlegenheitswahns vorführen. Doch der Versuch scheitere kläglich, weil Dörner eine eigene Position vorenthielt. Für seine „Unverfrorenheit“ wurde er von vielen Teilnehmerinnen mit herber Kritik bedacht.
Mit sichtlichem Unbehagen und sehr schlecht vorbereitet „stellte“ sich dann Niels Pörksen, Leiter der Anstalt in Bethel, dem erwartungsvollen Auditorium. Er griff einige Gedankensplitter seiner Vorrednerinnen auf und benügte sich mit ein paar Personalstatistiken aus seiner Klinik, um damit die heutigen Machtverhältnisse in der Psychiatrie zu illustrieren. Er brach unter Buh-Rufen ab. Den leitenden Herren vom Plenum wurde ihre Ignoranz und Borniertheit angekreidet, ihre Beiträge als „unter allem Niveau“ und „Ausdruck ihrer Mißachtung von Frauen“ kritisiert.
Soweit zum Thema: Wie männlich ist die Psychatrie - auch in der angeblich fortschrittlichen, reformerischen DGSP, die vor 20 Jahren nicht nur die „Auflösung der Großkliniken“ in kleine, dezentrale, nichthierarchische Einheiten forderte, sondern einst auch von der prinzipiellen Gleichheit aller (auch gleicher Bezahlung!) dort Beschäftigten träumte. Der „herrschaftsfreie Dialog“ habe sich aber schnell als „Illusion“ herausgestellt, bemerkte die Psychologin Ursula Plog von der Bonhoeffer-Klinik (West-Berlin). Die Debatte über die Hierarchie in den Institutionen strebe heute wieder „in Richtung Tabu“.
Ein Thema zog sich wie ein roter Faden durch die ganze Tagung: sexuelle Gewalt und ihre Bedeutung für psychische Krankheiten. Schätzungen gehen inzwischen davon aus, daß 80 Prozent der Patientinnen Mißbrauchserfahrungen haben, jede vierte Frau als Mädchen mißbraucht wurde, 14 Prozent der Frauen vom Ehemann vergewaltigt werden. Dennoch sei für dieses Thema in der Psychiatrie bisher noch kein Platz, kritisierte Irene Johns vom Kinderschutzbund Kiel. Die Diplompädagogin berichtete, daß 20 Prozent der betroffenen Kinder bereits in den ersten fünf Lebenjahren von Vätern oder anderen Verwandten und auch Bekannten mißbraucht werden, 40 Prozent zwischen fünf und acht, weitere 40 Prozent ab acht Jahren und älter. Durchschnittlich ziehe sich die Mißhandlung über mehr als vier Jahre hin. Bei drei bis vier Vergehen pro Woche seien das rund 700 Übergriffe.
Je länger sie sich mit dem Thema befaßten und ihre Wahrnehmung für die Symptome des sexuellen Mißbrauchs schulten, so Frau Johns, desto häufiger stießen sie inzwischen auch auf mißhandelte Jungen. Der Kinderschutzbund habe inzwischen unter den Opfern einen Anteil von 25 Prozent Jungen ermittelt. Neue Untersuchungen aus Holland sprächen gar von 40 Prozent; unter den TäterInnen seien auch sieben Prozent Frauen. Täter seien häufig (68 Prozent) selbst Opfer oder einem Opfer nahe gewesen. Irene Johns wies auch darauf hin, daß viele Frauen mit Mißbrauchserfahrungen später in ähnlichen Verhältnissen lebten.
Die meisten Teilnehmerinnen zeigten sich angeregt, ja begeistert von der Tagung. Sie waren gekommen, um sich über ihre oft frustrierenden Arbeitsbedingungen auszutauschen, sich Anregungen zu holen und den Rücken stärken zu lassen, für „frauengerechtere“ Ansätze innerhalb und außerhalb der Psychiatrie. In mehr als zwei Dutzend Arbeitsgruppen konnten viele verschiedene Aspekte des komplexen Themas aber oft nur angerissen werden. Eine Teilnehmerin zeigte sich auch „erschrocken“ über die „knallharten“ Darstellungen einiger Feministinnen, Besucherinnen aus der DDR fanden manches zu „militant“.
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