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Kultourismus - Vision 2009

■ Ueli Mäder besuchte einen Kongreß im österreichischen Ötztal zur Zukunft der Alpenländer

UELI MÄDER besuchte einen Kongreß im österreichischen Ötztal zur Zukunft der Alpenländer

as magische Jahr 2000 taucht in vielen Buchtiteln und Szenarien auf. Je näher es rückt, desto weiter reichen zeitlich - die Visionen.

„200 Jahre Freiheitskriege“ feiert das Tirol im Jahr 2009. Auf Einladung der „Pro Vita Alpina“ trafen sich rund hundert Einheimische vorweg. Vom 24. bis 27. Mai 1990 kamen sie im hinteren Ötztal zusammen, damit ihre Nachkommen anno 2209 „200 Jahre Aufstand der Bereisten“ feiern können. Gemeinsam wollten die Ansässigen vereinzelten Widerstand gegen den touristischen Ausverkauf ihres Lebensraumes koordinieren und eine Kultourismus-Vision 2009 skizzieren.

Eingeladen waren auch Tourismusfachleute aus Nord und West. Sie redeten viel: vom „Tatort Alpen“, vom „Tatort Himalaya“. Vielleicht würden bald, so eine Spekulation, die Massen im Osten die Kassen einiger weniger füllen und die Probleme im Süden verstärken.

Jugendliche aus Tirol kritisierten den „gästebedingten Familienstreß“ und „das Fremdendasein im eigenen Dorf“. Bauern, Kulturschaffende und - selbsterklärt - „sanfte Tourismuspraktiker“ beklagten den „Mißbrauch der Alpen als Deponieraum“, die „stille Revolution absterbender Blätter“, die „in Beton gegossene Fantasielosigkeit“, die „Geometrisierung der Landschaft durch vierrädriges Kulturverhalten“, die „eigentümlich dümmliche Mobilitätsmoral“ sowie die „wachsenden Zäune ökonomischer Aggressivität“. Der internationalen „Tertianisierung und Touristifizierung“ stellen sie die „Diversifizierung und Regionalisierung“ entgegen. Eine aufgefächerte Produktionsstruktur soll Monokultur und einseitige Abhängigkeit weltwelt verhindern. Aber wie? Wie sind diese längst bekannten Einsichten realisierbar?

ie alte Verelendungstheorie erhält neue Aktualität: Politiker, die bei Asylgesuchen gerne darauf hinweisen, wie voll unser Boot sei, beschwören andererseits, daß wir alle auf dem gleichen Dampfer säßen. Auch Entwicklungsexperten betonen der Umweltgefährdung wegen die gemeinsamen Interessen der Erdbevölkerung. Nord-Süd-Kampagnen wie Eine Welt zielen darauf ab, das Bewußtsein gegenseitiger Abhängigkeit zu fördern. Mit der Verschärfung von Risiken würden private Fluchtwege schwinden. Gilt also: Je größer die Naturzerstörung, desto mehr wehren sich die Betroffenen?

Wo der Mist geführt ist, schmeißt der Bauer die Gabel hin. Am Ötztaler Symposium wurden Erfahrungen aus Goa (Indien), Nefta (Tunesien) und dem Alpenraum verglichen. Ausgehend von der Frage: Was bewegt Menschen dazu, sich zu engagieren? „Ohne Aussicht auf Erfolg, rührt sich bei uns niemand“, lautete eine häufige Antowort. Sie deutet die Notwendigkeit an, Handlungsalternativen zu vermitteln. Wenn alles nur schlimmer wird, nimmt die Ohnmacht zu.

Die Kultourismus-Vision 2009 begnügt sich nicht damit, den älplerischen „Lederhosen-Gigantomanismus“ und den „Coca -Colonialismus“ zu brandmarken. Sie knüpft an verdrängte Eigenheiten an, die es zu entdecken gilt. Beispielsweise die aufmüpfige Dialektverdichtung. Sie soll soziale und kulturelle Unterschiede akzentuieren und den Trend zum Einheitsbrei und zur totalitären Integration kontrastieren. Vielfalt ermöglicht eine Identität, die prozessualen Charakter hat und nur in Teilbereichen möglich ist. Wo sie gelebt wird, sind Menschen offener und kritischer.

er auf eigenen Füßen steht, ist weniger korrumpierbar. Entscheidend ist bei der Kultourismus-Vision, daß Einheimische das Sagen haben. Sie plädiert für einen Aufbau von unten. Kultur läßt sich weder von oben aufpflanzen, noch isoliert betrachten. Sie gedeiht, wo Demokratisierung die gesamte Wirtschaft und Gesellschaft umfaßt. Ohne fundamentale Gerechtigkeit in allen Lebensbereichen gibt es auch keinen mündigen Tourismus.

Worum's geht, sinnbildlich ausgedrückt: „Weise am Weisen ist die Haltung“, schreibt Bertold Brecht in einer seiner Geschichten vom Herrn Keuner. „Du sitzt unbequem“, sagt dieser zu einem Gelehrten, der seine Weisheit demonstriert und verärgert reagiert: „Nicht über mich wollte ich etwas wissen, sondern über den Inhalt...“ Darauf Keuner: „Es hat keinen Inhalt... Sehend deine Haltung, interessiert mich dein Ziel nicht.“ Haltung hat hier eine doppelte Bedeutung. Wohlbefinden und Rückgrat sind gemeint, die Bereitschaft, sich zu exponieren und artikulieren.

n Aufstand im Schlaraffenland (Hanser 1989) mokiert sich Matthias Horx über jene, die 1968 die Welt mit ein paar Aktionen aus den Angeln hieven wollten. Mehr ärgern ihn heutige „Zauderer“, denen bei jedem praxisorientierten Vorschlag hundert Argumente in den Sinn kommen, um etwas nicht zu tun. Laut Horx scheitern Menschen weniger an erlittenen Niederlagen als an Auseinandersetzungen, die sie nicht wagen. Damit sei keiner Flucht nach vorne das Wort geredet. Es gibt genug Technokraten, die in blindem Vertrauen das Ozonloch just mit ähnlichen Mechniasmen „stopfen“ wollen, die es verursacht haben. Es lohnt sich nicht, mit neuer Omnipotenz und wehenden Fahnen unterzugehen. Bei den Wendungen von Me-ti läßt Bertold Brecht den Sozialphilosophen den Mathematiker An-tse in Schutz nehmen. Dieser setzte sich seinen Studierenden gegenüber dem Vorwurf aus, sterbend nur noch einfache Algebraaufgaben gelöst zu haben, was für einen Gelehrten ein etwas seichter Abgang sei. Wenn wir über einen großen Fluß müssen, empfiehlt es sich laut Me-ti aber, bewußt eine seichte Stelle auszuwählen. Das ist kein Aufruf zum Opportunismus, sondern ein Versuch, den Pragmatismus zu erklären, der hinter der Kultourismus-Vision 2009 steckt. Daß die „Pro Vita Alpina“ keinen Isolationismus predigt, veranschaulicht die ergänzende Umkehrung des Ausspruches „Lokal handeln - global denken“ in „Lokal denken - global handeln“.

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