: Radklassiker über Berlins Wasserstraßen
■ Olaf Merkel (Leipzig) gewann die 84.traditionelle Wasserschlacht rund um Berlin, die 208 Kilometer durch beide Teile der Stadt führte / 1896 wurden Zaungäste Zeugen eines skurrilen Rekords: 50 Kilometer lang fuhr ein Radler ohne Beinkleider
Berlin. Die Vorbereitung zur 84. Auflage des ältesten deutschen Radrennens „Rund um Berlin“ verbreitete Geisterstimmung. Bis wenige Minuten vor Beginn des 208 Kilometer langen Rennens war vom Teilnehmerfeld am Palast der Republik kaum etwas zu sehen. Nur sporadisch huschte ein wasserdichter Radler durch den Dauerregen. Die meisten der 120 Aktiven suchten Unterschlupf im Mannschaftswagen oder trugen einen ortsfremden Geruch von Einreibemitteln ins Foyer der Volkskammer.
„Seid vorsichtig mit dem Knüppelpflaster bei den Ortsdurchfahrten“, mahnte der Technische Leiter des veranstaltenden 1. SC Berlin, Michael Drabinski, als er das Feld um 8.42 Uhr auf die Reise schickte. Im Uhrzeigersinn setzte sich der Pulk zur Umrundung Berlins in Bewegung, vorbei an einer spärlichen Zuschauerkulisse. Die Route führte über Marzahn, Erkner, Großbeeren und Teltow, bis sie schließlich an der Spanischen Allee erstmals in Westberliner Gebiet einmündete. Vom Grunewaldturm über die Heerstraße fanden die Zweiräder wieder zurück auf DDR-Territorium. Und überall prasselte der unerbittliche Regen auf die Fahrerschar.
Eigentlich herrschte typisches „Rund-um„-Wetter. Bereits bei der Premiere am 28. August 1896 (der Berliner Radklassiker ist somit um vier Jahre älter als die Tour de France) goß es wie aus Kübeln. Zum Schutz vor der himmlischen Flüssigkeit mußten die Velociped-Strampler Kartoffelsäcke überstreifen. Einem Teilnehmer zerrieben Regen und märkischer Sand gar dermaßen die Hose, daß er 50 Kilometer lang ohne seine Beinkleider durchhalten mußte.
1897 verbot die Polizei das Spektakel für insgesamt fünf Jahre, jedoch nicht wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses. Vielmehr, so die Ordnungskräfte, hätten die schweren, ganglosen Maschinen die Allgemeinheit bedroht. 1902 erlebte die Stadt ein glanzvolles Comeback des Rennens. 1909 durften erstmals Profis in die Umlaufbahn gehen; dafür blieben allerdings Autos und Motorräder endgültig in der Garage. Den Grund für die Rote Karte nannte das Fachblatt 'Illustrierte Radrennsport‘: „Unzählige Wagen und Motorräder mit guten Freunden und Freundinnen darin kämpften miteinander auf Leben und Tod um die besten Plätze in dem Triumphzuge.“
Nachdem die professionellen Pedalquäler 1950 das Schicksal ihrer motorisierten Wegbegleiter von einst teilen mußten, formten namhafte Amateure die Stadtrundfahrt zu einem Highlight des Radsports. Namen wie Uwe Raab (1986) sowie Olaf Ludwig (1987) zieren die Siegerliste. Heute fahren beide im Profilager.
Auch am Sonntag nahmen bekannte Radler aus dem In- und Ausland die Strecke in Angriff, allen voran die DDR -Friedensfahrer Rein, Boden und Dietz. Doch zu bestellen hatten sie während der Wasserschlacht auf zwei Rädern ebensowenig wie ihre Konkurrenten aus der Sowjetunion, Bulgarien oder West-Berlin. Die Vorentscheidung fiel diesmal bereits bei Kilometer 85. Gerade als sich die zurückgebliebene Radsportfamilie im Foyer der Volkskammer an Kaffee und Kuchen zu laben begann, löste sich ein Trio vom Hauptfeld: Olaf Merkel (Gröditz) legte einen Zwischenspurt ein, dem nur noch Hagen Bernutz (Frankfurt/ Oder), Zweiter der diesjährigen Oder-Rundfahrt, und Vorjahressieger Uwe Stoltze von „Diamant Chemnitz“ folgen konnten. Ihre eigentlichen Gegner auf dem anschließenden 120 Kilometer langen Solotrip waren nicht die abgehängten Kontrahenten, sondern die Urgewalten.
Aus dem Radio drangen furchterregende Meldungen von 60 Zentimeter tiefen Wasserlachen und unterspülten S-Bahn -Gleisen zum Zielort. Die drei Spitzenreiter ließen sich nicht beeindrucken und vergrößerten durch kluge Kollektivarbeit ihren Vorsprung bis Kilometer 120 auf fünf Minuten. Im Ziel wetteten die Experten bereits auf Olaf Merkel, dem besten Sprinter in der Führungstroika. Und tatsächlich: Als die ersten drei gegen 14 Uhr auf die letzte Gerade einbogen, lag der frühere Leipziger schon vorne. Mit knapp zwei Metern Vorsprung vor Bernutz und Stoltze flog Merkel über die Zielmarkierung.
Doch in Gedanken, das konnte man seinem Gesicht unschwer ablesen, erholte sich der Sieger bereits in der heimischen Badewanne.
Jürgen Schulz
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