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Rußland soll Lokomotive der UdSSR bleiben

■ Auf dem Weg zu einer neuen UdSSR / Jelzin will mit Gorbatschow zusammenarbeiten / Wird die Parteispaltung vermieden? / Litauer „zweifeln nicht an der Aufhebung der Blockade“ / Georgier trinken „auf den Segen Rußlands“

Moskau/Berlin (taz) - „Wohin soll man rennen?“ - mit dieser verzeifelten Frage kommentiert der Pariser 'Monde‘ die Ereignisse der letzten Tage in Moskau. Rußland erklärt sich souverän, Jelzin trifft sich mit Gorbatschow, die baltischen Republiken verhandeln mit der Sowjetregierung, der Oberste Sowjet der Union stimmt über Wirtschaftsreformen ab, und Präsidentssprecher Maslennikow kündigt einen neuen Unionsvertrag an: das alles in nur zwei Tagen, und was es bedeutet, weiß keiner so recht. Was dem einen sin Uhl, ist dem andern sin Nachtigall.

Im souveränen Rußland will mancher sogar schon einen gekrönten Adler erkennen; doch als der Kongreß der Volksdeputierten der RSFSR für die Souveränitätsdeklaration stimmte, geschah dies bei weitem nicht aus vaterländischem Chauvinismus. In Rußland konnte bisher keine nationale Bewegung als Trägerin der politischen Emanzipation entstehen, da der Begriff „Rußland“ vom Begriff „Sowjetunion“ aufgesogen worden war. Der Befreiungskampf mußte hier zum Kampf jedes einzelnen mit sich selbst werden. Weil sie sich durch keine nationale Bewegung befreien konnten, sind die Russen den schwereren Weg gegangen: Durch eine Bewegung mit hauptsächlich demokratischen Inhalten haben sie sich als Nation konstituiert. Daß die konservativen Nationalisten durch dieses Vorgehen zum Konsens gezwungen wurden, ist ein genialer Schachzug des „Blocks Demokratisches Rußland“, der so mit knapper Mehrheit zu siegen verstand.

„Unser Land ist am letzten Zipfelchen der letzten Hoffnung auf eine radikale Veränderung angelangt, denn Rußland ist die Lokomotive des ganzen Landes“, schrieb die Zeitschrift 'Argumenty i fakty‘ zu Beginn dieses Kongresses. Inzwischen hat die Lokomotive angezogen, und die mit der UdSSR -Regierung überworfenen Vertreter der aufmüpfigen Randrepubliken lassen erkennen, daß ihnen die Richtung paßt. Der litauische Parlamentspräsident Landsbergis antwortete auf die Frage von Vertretern des Moskauer Stadtsowjets, was denn weiter aus seinem Land werden solle, daß es ja jetzt in Rußland Boris Jelzin gäbe, und da werde man schon weiter sehen. Und ein Besucher aus Georgien, einem Land mit einer ausgesprochenen Trinkspruchkultur, teilte in Moskau mit: „Wir trinken jetzt nur noch auf den Segen Rußlands“.

Durch den Plan, mit allen anderen Unionsrepubliken eigenständige vertragliche Beziehungen auszubauen, verwirklicht die neue russische Führungsspitze in aller Öffentlichkeit die „Superverschwörung“ aus Stalins Alpträumen. Wird nunmehr die Zukunft der Nation von der Gesinnung der Zöllner und Eisenbahner abhängen, wie neulich ein Moskauer Kollege mutmaßte? Und was wird bei alledem aus dem im Westen so geliebten Präsidenten der UdSSR?

Erste Anzeichen sprechen dafür, daß sich der Präsident als politischer Meistersegler aus dem Strom retten wird, verfügt er doch wie kein Zweiter über die Fähigkeit, politische Entwicklungen als Resultat der eigenen Bemühungen zu deklarieren. Für die Regierung Ryschkow steht das präsidiale Schattenkabinett schon bereit. Und auch über die durch Rußlands Souveränitätserklärung entstandene Krise scheint sich Gorbatschow retten zu können. Zusammenarbeit „auf einer gemeinsamen sachlichen Basis“ hatte Jelzin versprochen, nachdem er am Dienstag zum ersten Mal seit Monaten mit Gorbatschow zusammengetroffen war. Was dies bedeuten könnte, ließ Chefideologie Wadim Medwedew schon durckblicken: Diskussionen über einen gemeinsamen Programmentwurf der verschiedenen KP-Flügel zum Parteikongreß Anfang Juli hätten „bereits begonnen“. Damit könnte eine Parteispaltung vermieden werden.

Der Konflikt zwischen der Sowjetregierung und den baltischen Republiken scheint sich auf ähnliche Weise zu entspannen. Nach dem Gespräch mit Gorbatschow deuteten Landsbergis und sein lettischer Amtskollege Gorbunovs erleichtert an, daß ein Ausweg in Sicht sei. Laut Estlands Präsident Rüütel gebrauchen beide Seiten jetzt das Wort „Verhandlungen“. Die litauische Ministerpräsidentin Prunskiene sagte, man werde prüfen, ob die litauische Unabhängigkeitserklärung außer Vollzug gesetzt werden könnte. Dies ist nach wie vor Bedingung für eine Aufhebung der sowjetischen Wirtschaftssanktionen. „Wir zweifeln nicht an der Aufhebung der Blockade“, betonte Prunskiene. „Das wurde ganz konkret gesagt“.

B.Kerneck/D.J.

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