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Von der Wiege bis zur Bahre

■ Wer in den USA zu Fuß geht, ist entweder Tourist oder arm, auf jeden Fall verdächtig. Denn dortselbst wird man nur dann zum vollwertigen Menschen, so man sich auf vier Rädern fortbewegt.

ber welches Bauwerk wird in der US-Bundeshauptstadt Washington am meisten geredet? Nein, es ist nicht das Kapitol und auch nicht das Weiße Haus - es ist der Beltway.

Auf ihm wird keine Politik gemacht, und es wird auch nicht über Invasionen in fremde Länder entschieden - auf seinen siebzig Meilen langen, achtspurigem Beton, die sich wie ein Gürtel um Washington ziehen, wird Auto gefahren. Und das in extremer Form - nicht umsonst hat der Volksmund ein besonders kurvenreiches Teilstück „die Achterbahn“ getauft. Da Washingtons verhaßte Stadtautobahn keinen Standstreifen hat, gab es die Polizei schon vor Jahren auf, die zulässige Höchstgeschwindigkeit durch Kontrollen durchzusetzen. Und so braust man mit siebzig oder achtzig statt der vorgeschriebenen 55 Meilen pro Stunde das Asphaltband entlang, überholt rechts, drängelt links und wechselt die Spuren nach Gutdünken, alles während man dabei noch ein dringendes Gespräch per Autotelefon erledigt.

Der „Capital Beltway“, wie ihn die Verkehrsplaner der Hauptstadt wohl nicht ohne einen gewissen Stolz getauft haben, ist ein Alptraum aus Beton und Blech, ein Ärgernis für Pendler und Pensionäre, für Bürokraten und Bankiers. Doch er ist ein lebensnotwendiges Ärgernis. Ohne ihn wäre kein Alltag in der US-amerikanischen Hauptstadt möglich. Wie in jeder anderen Stadt der USA sind auch hier die Wohnviertel weitab von den Bürotürmen, die Einkaufszentren Meilen von den Vergnügungsmöglichkeiten entfernt angelegt. Für fast alles wird eine Fahrt mit dem Automobil nötig. Der Beltway ist der große Gleichmacher: Ihn teilt sich die schwarze Familie in ihrem zwölf Jahre alten verrosteten Chevy Chevette mit dem Cheflobbyisten eines Rüstungskonzerns im schwarzen BMW. Auf ihm kutschiert die Heilsarmee Kleiderspenden ins Obdachlosenasyl und ein Luxusrestaurant Hummerschwänze und Trüffelpastete auf den Diplomatenempfang.

Und so ergießen sie sich zu Zehntausenden in jenes Herzkranzgefäß der US-Kapitale, um die Stoßstangen an denen der Vierzigtonner zu reiben, die den Beltway auf ihrem Weg von den Metropolen des Nordens - New York, Philadelphia, Baltimore - in den amerikanischen Süden nicht vermeiden können. Und täglich kommt es zum Infarkt. Spätestens wenn einem der notorisch schlecht gewarteten Riesentrucks die Bremsen versagen und sich Zehntausende von Konservenbüchsen über den Asphalt ergossen haben, verstopft die Verkehrsarterie für Stunden. Dann kann sich leicht wiederholen, was pro Jahr ein Dutzend Mal geschieht: Daß ein Kind nicht im Krankenhaus zur Welt kommt, sondern sein Leben ganz ungeplant schon im Stau auf dem Beltway beginnt. Häufiger allerdings endet hier the american way of life in einer Blutlache auf dem Asphalt.

er Verkehr und das Auto gehören zum amerikanischen Alltag wie Fernsehen und Baseball. Ohne ein Kraftfahrzeug kann man nur an wenigen Plätzen dieses Landes existieren - in Manhattan etwa, wo ein eigenes Auto zum ständigen Klotz am Bein wird, kostet doch ein Parkplatz bis zu zehn Dollar die Stunde. Die Monatstarife sind freilich etwas günstiger - für um die 200 Dollar ist, allerdings nach langem Suchen, ein Stellplatz zu mieten. Doch auch diese stolze Summe gewährleistet noch kein reibungsloses Pendeln von der Wohn zur Arbeitsstätte, denn die Insel Manhattan ist nur über einige Brücken oder Tunnel zu erreichen. Ein bis zwei Stunden Wartezeit muß man da schon pro Strecke in Kauf nehmen, bis man sich zur Rush-Hour durch die Nadelöhre aus dem Big Apple hinausgefädelt hat. Eine sinnvolle Alternative dazu gibt es oft nicht, denn selbst das vergleichsweise weitverzweigte New Yorker Nahverkehrssystem läßt weite Flächen unversorgt. Und das unzuverlässige und nervtötende U -Bahnsystem jagt vielen New YorkerInnen nur kalte Schauer über den Rücken - nicht nur, weil es in den Bahnhöfen penetrant nach Pisse und Müll stinkt.

Taxifahrer in Manhattan müßte man sein, wird sich mancher angesichts solcher Verhältnisse denken, und hat dabei einen durchaus richtigen Gedanken. Allerdings würde er bei seinem Bemühen um eine Lizenz auf einen der extrem seltenen Fälle stoßen, in dem in den Vereinigten Staaten strikte Planwirtschaft praktiziert wird. Es gibt nur eine bestimmte Anzahl dieser Lizenzen und keine einzige mehr. Wie bei Planwirtschaften anderswo, entsteht flugs ein schwarzer Markt. Und die Preise? Nun, sie liegen deutlich über den Summen, die man für eine gutgeschnittene Fünf-Zimmer -Altbauwohnung in Berlin-Charlottenburg an Abstand zahlen darf.

Aber die meisten US-BürgerInnen leben ohnehin nicht in Manhattan, sie leben irgendwo in einer dieser Städte mit ihrer ringförmigen Struktur, die den Alltag räumlich in Stücke reißen und die ein Auto - oder besser zwei - zur Lebensnotwendigkeit machen. Im Zentrum haben Bürohäuser die Gebäude des alten Stadtkerns ersetzt, ab dem frühen Abend herrscht gähnende Leere in den Straßen. Den nächsten Zwiebelring bilden die Wohnviertel des Mittelstands, ein Häuschen neben dem anderen, fein säuberlich ausgerichtet und von Ausblicken auf Geschäfte oder Kneipen befreit. Die wurden noch weiter nach außen gedrängt, in jene formlosen Gebäudekomplexe, die von gigantischen Parkplätzen umgeben sind und im Lokalfernsehen vollmundig eine „völlig neue Einkaufserfahrung“ versprechen. Sofern man ein Auto hat und damit zu ihnen gelangt.

Aus diesem Grund wurde wohl auch die legendäre amerikanische Einkaufstüte aus braunem Papier erfunden. Da niemand zu Fuß zum Supermarkt geht und folgerichtig seine Einkäufe nach Hause tragen muß, reicht auch eine Tüte, die nur von der Kasse bis zum Kofferraum hält. Eine autogerechte Tüte eben.

u allem braucht man ein Auto in den Vereinigten Staaten selbst um den Führerschein zu machen. Die meisten AmerikanerInnen lernen das Fahren im Selbstunterricht, mit der Mutter, dem Vater oder dem Freund auf dem Beifahrersitz. Bei der Prüfungsbehörde holt man sich ein Heftchen mit den Verkehrsregeln, lernt sie und absolviert einen theoretischen Test. Dann lädt man den Prüfer in die Familienkutsche und kurvt mit ihm einmal um den Block. Das war's - fortan darf man sich mit Daddy's Buick in die Blechschlangen einreihen. Erlaubt ist dies in einigen US-Bundesstaaten schon mit 15 Jahren - sechs Jahre, bevor man in einer Kneipe das erste (legale) Bier trinken darf. In Montana, wo die Farmen so groß sind, daß man sogar zum Kuhstall mit dem Auto fahren muß, bekommt man den Führerschein sogar schon mit 13 Jahren. Nur in der Bundeshauptstadt Washington hat man 18 Jahre als Mindestalter festgesetzt. Kinder auf dem Beltway wären eine wirklich erschreckende Vorstellung.

Dagegen soll es schon vorgekommen sein, daß ganze Häuser über den Beltway kutschiert wurden. Das Wort Fertighaus hat in den USA eine andere Bedeutung als bei uns. Dort gibt es Häuser von der Stange, schlüsselfertig zu besichtigen auf dem Gelände der Baufirma. Findet man an einem der Zwei- bis Dreizimmerboxen von den Ausmaßen eines Lastwagenanhängers Gefallen, so kann man sich das neue Heim wenige Tage später nach Hause liefern lassen. Es wird auf einen Tieflader gepackt, und los geht's. Hoffentlich funktionieren die Bremsen - sonst kracht es mal wieder auf dem Beltway.

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