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Ein Fußballspiel ist kein Boxkampf

Mit einem unverdienten 1:0 gegen Kolumbien bahnte sich Jugoslawien den Weg in Richtung Achtelfinale Der südamerikanische Libero-Torwart Jose Rene Higuita verzauberte einmal mehr das Publikum  ■  Aus Bologna Matti Lieske

Seit der AC Mailand im Dezember in Tokio gegen Nacional Medellin aus Kolumbien den Weltcup gewann, ist Milan-Trainer Arrigo Sacchi ein dicker Freund des damaligen Medellin -Trainers Francisco Maturana, der auch die kolumbianische Nationalmannschaft betreut. „Von dem kann auch ich noch etwas lernen“, beteuert Sacchi - die vielseitige Verwendungsmöglichkeit eines Torhüters beispielsweise.

Es ist jedoch zu bezweifeln, ob Milan-Keeper Pazzagli die Libero-Rolle derart perfekt auszufüllen vermag, wie dies Kolumbiens Fußball-Idol Jose Rene Higuita tut. Der hat die Order, nie mehr als fünfzehn bis zwanzig Meter Platz zwischen sich und der raumdeckenden Vierer-Abwehrkette zu lassen, und seine mit der Ruhe und Routine eines Franco Baresi ausgeführten Aktionen vor dem Strafraum verzückten auch gegen Jugoslawien das Publikum.

Vor der WM war der Torwart-Libero noch als Harlekin belächelt, Kolumbiens Taktik des „Vierer-mit“ als Harakiri -System gescholten worden, doch nach den ersten beiden Spielen sind plötzlich alle des Lobes voll. „Solch einen Torwart hätte inzwischen jeder gerne“, sagte Jugoslawiens Trainer Ivica Osim, und Franz Beckenbauer nahm den kolumbianischen Keeper gegen den Vorwurf des Leichtsinns in Schutz: „Er spielt keineswegs leichtsinnig, auch seine Dribblings sind nicht leichtsinnig, er ist einfach ein hervorragender Fußballer.“

Kolumbien war die meiste Zeit die bessere Mannschaft. Es spielte wesentlich schneller als beim 2:0 gegen die Arabischen Emirate, und vor allem Carlos Valderrama zeigte, daß man ihn doch nicht nur wegen seiner Frisur den „blonden Gullit“ nennt. Technisch gekonnt und mit phänomenaler Übersicht verteilte er die Bälle und initiierte schnelle, verwirrende Angriffe, die jedoch in Strafraumnähe meist an der mangelnden Genauigkeit im Abschluß und der Fahrlässigkeit der Sturmspitzen Rincon und Iguaran scheiterten. „Ein harmonisches Kollektiv, aber ohne Tiefe“, urteilte Arrigo Sacchi.

Jugoslawien bestand, wie schon gegen die Bundesrepublik, praktisch nur aus Dragan Stojkovic. „Er muß lernen, daß seine Mitspieler nicht die ganze Zeit auf seinem Niveau spielen können“, hatte Osim ihn nach dem BRD-Spiel gescholten, wo Stojkovic die letzte halbe Stunde nur noch damit verbracht hatte, die eigenen Leute anzumeckern. Diesmal riß er sich zusammen, und seine hartnäckigen Bemühungen führten in der 75. Minute zum Siegtor der Jugoslawen, das zwar unverdient, aber wunderbar herausgespielt war.

Stojkovic verlangte lautstark den Ball auf der rechten Seite, bekam ihn auch und hob ihn gefühlvoll in den Strafraum, wo Jozic ihn von der Brust abtropfen ließ und aus der Luft vom Elfmeterpunkt ins Netz schmetterte.

Die Kolumbianer waren konsterniert, und plötzlich hatten die Jugoslawen haufenweise Torchancen. Wieder Stojkovic legte Susic den Ball vor die Füße, der aber nur den Pfosten traf, und Hadzibegic scheiterte mit einem Handelfmeter an Higuita, der die Strafstöße nicht nur zu schießen, sondern auch zu halten weiß. In den letzten zehn Minuten sorgten dann nur noch die Nachrichten vom Spiel in Bari für Aufsehen, das Durchhaltevermögen der Jugoslawen, die die meiste Zeit am Rande des K.o. entlanggewankt waren, hatte sich gelohnt.

Wie sagte doch Ivica Osim später: „Ein Fußballspiel ist eben kein Boxkampf, es muß bis zum Ende ausgetragen werden.“

Jugoslawien: 1 Ivkovic - 5 Hadzibegic - 2 Stanojkovic, 3 Spasic - 10 Stojkovic, 13 Katanec (46./17 Jarni), 16 Sabanadzovic, 8 Susic, 6 Jozic, 7 Brnovic - 11 Vujovic (54./9 Pancev)

Kolumbien: 1 Higuita - 4 Herrera, 15 Perea, 3 Gildardo Gomez, 2 Escobar - 14 Alvarez, 19 Rincon (68./22 Hernandez), 10 Valderrama, 8 Gabriel Gomez, 11 Redin (79./7 Estrada) 16 Iguaran

Schiedsrichter: Luigi Agnolin (Italien) / Zuschauer: 32.257 / Tor: 1:0 Jozic (74.)

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