: „Man hat dich doch total verarscht“
Noch immer studieren hohe Kader der Nationalen Volksarmee in der UdSSR / Die Existenzangst grassiert / Von der Elite zum Fußabtreter ■ Aus Moskau K.-H. Donath
Die Botschaft der DDR am Moskauer Lenin-Prospekt ist gar nicht leicht zu finden. Weit nach hinten versetzt, für Passanten kaum sichtbar, ist der Zugang nur über eine Seitenstraße möglich. Kein angemessener Platz für die damalige unbestrittene Nummer eins unter den Bruderstaaten. Heute harrt der Riesenbau seiner weiteren Verwendung und mit ihm auch das diplomatische Dienstleistungspersonal, dessen vornehmliche Aufgabe zur Zeit darin besteht, den geordneten Rückzug eines Teils der über 30.000 DDR-BürgerInnen in der UdSSR zu organisieren.
Auch Oberst Kraus, die rechte Hand des Miltärattaches, ist mit Demobilisierung befaßt. Gleich nach den „Novemberfeiertagen“ - so ein unbemerkter Lapsus des Obersten - haben 150 Offiziere freiwillig um ihre Entlassung gebeten: „Sie wollten nichts verpassen.“ Allerdings studieren noch immer rund 700 Offiziere an den Miltärakademien der UdSSR. Waren sie einmal für Höheres bestimmt, schauen die Auserkorenen nun einer ungewissen Zukunft entgegen. Doch Kraus, offen und so geschmeidig wie es die DDR-Sozialisation zuließ, versucht, aus der Situation das Beste zu machen, Untergangsstimmung verbreitet er nicht. Wesentliche Schützenhilfe leistete ihm dabei Verteidigungsminister Eppelmann mit seiner Stellungnahme zum vorübergehenden Weiterbestehen der NVA. Wenigstens einen Teil ihrer Existenzangst konnte er den Militärs nehmen. „Eppelmann? Zunächst Vorbehalte hoch drei, schon weil er Christ war. Aber heute: ein guter Mann“, lobt ein Flieger -Kommandeur. Und auch Kraus findet nur anerkennende Worte: „Wenn er sagt, er kümmere sich um seine Leute, dann tut er das auch. Der Arbeitsstil im Ministerium hat sich völlig geändert. Auf einmal hört jemand auf uns.“
Im großen und ganzen hätten die Kader den Schock des Novembers überwunden. „Trotz der Enttäuschung nach den Enthüllungen traten bei den mittleren Dienstgraden kaum Probleme auf. Mittlerweile ist das verarbeitet“, glaubt Kraus, der die Dinge allzu reibungslos darstellt. Immerhin waren die für Moskau bestimmten Kader doch Hundertprozentige? Dieses Wort mag Kraus überhaupt nicht und möchte die Sache eher runterspielen: „Politische Arbeit wurde bei uns nicht so ernst betrieben“, fast hätte er gesagt: „ernst genommen“, als ließe sich im nachhinein vom mangelnden Erfolg auf die Ernsthaftigkeit schließen. Als Beleg führt er die schnelle Einsicht im Offizierskorps an, jetzt nur noch den Verfassungsauftrag erfüllen zu wollen. Viele Führungskräfte hätten deshalb die Partei sofort verlassen. Hat das nicht eher etwas mit der beruflichen Perspektive zu tun? Ausschließen will es der Oberst zumindest nicht... Auch die militärische Zukunft der DDR kommt ihm erstaunlich glatt über die Lippen: „Die logische Konsequenz wäre ein Austritt der DDR aus dem Warschauer Pakt. Wir können ja nicht erwarten, daß die BRD die Nato verläßt.“ Kein Wunder, wenn sowjetische Militärs mit diesem fliegenden Wechsel nicht so ohne weiteres zurechtkommen. Überall ist zu hören: „Die Sowjets haben die neue Lage noch nicht begriffen. Viele wollen es einfach nicht wahrhaben, daß die DDR verloren ist.“ Und einige, setzt Kraus noch drauf, wollten dagegen auch etwas unternehmen. Aber was?
Ist es nun ein Zeichen von Realitätsverlust oder ein weiterer Schritt zum gemeinsamen Haus? Am Lehrstoff der DDR -StudentInnen hat sich nichts geändert. Auch besondere Sicherheitsvorkehrungen wurden nicht getroffen. Die Lehrer begegnen ihren Musterschülern aus der DDR - „Sie waren immer Vorbilder“ - mit dem gleichen Wohlwollen wie früher. Das bestätigen auch Major Heiner und Hauptmann Forchert, die seit vier Jahren in Moskau eine technische Spezialausbildung erhalten. „Solange ihre Truppen noch in der DDR stehen, reagieren die Militärs 'normalno‘.“ Leise Zweifel kommen aber dennoch auf. Forchert glaubt, nach der Ausbildung auch die Verschlußsachen nach Hause mitnehmen zu können, sein Kollege zeigt sich da skeptischer: „Na, die kriegen wir doch nicht mehr mit.“ So komplikationslos wie Kraus sehen sie ihre Lage nicht. Besonders Kommandeur Heiner plagen Existenzsorgen: „Was soll ich denn machen ohne eine richtige Berufsausbildung?“ Er kann sich nicht vorstellen, in der Bundeswehr zu dienen, das heißt, er kann doch, „wenn die Existenz der Familie auf dem Spiel steht“. Sein Glück will er zunächst bei einer Flugzeugfirma in Hamburg versuchen. Wohnsitz aber weiterhin: „seine DDR“. Für kapitalismustauglich hält sich der Wärmekraftmaschineningenieur nicht. Geschäftssinn ginge ihm gänzlich ab, und an der widerlichen Verhökerei begehrter DDR -Produkte gegen Aufpreis an Russen beteilige er sich auch nicht. Er ist ein Musterkind der DDR. „Der Staat hat mir alles gegeben, und nicht alles war schlecht, was wir gemacht haben.“ Immer wieder beteuert er, von Korruption und Machenschaften der Stasi nichts geahnt zu haben. Auch mit der Partei habe er öfters quergelegen. „Ich hab‘ für diese Sache gelebt und steh‘ jetzt noch dazu. Ich wollte etwas verändern und nicht nur die Schnauze halten.“ Dabei zittert seine Stimme, manchmal ist er fast den Tränen nahe. „Verarscht haben die uns“, so sein Fazit. Forchert denkt zunächst auch nicht an einen Dienst in der Bundeswehr, aber: Es arbeitet in ihm.
Beide sprechen von den Sowjets als „unsere Freunde“, doch schon jetzt muß dem Hauptmann daran etwas befremdlich vorkommen: „Sind ja noch unsere Freunde, oder?“, fragt er ironisch, und etwas Tragisches liegt darin. Rückblickend hatte der Oberst über seine Studenten als „sichere Stützen der Sowjets, deren Aussage zum Sozialismus eindeutig war“, gesprochen und damit auch Zweifel an seiner Version der weniger wichtigen ideologischen Schulung aufkommen lassen. Auf diese beiden trifft es noch heute zu. Die Veränderungen in der SU haben sie von Beginn an miterlebt und begrüßt. Nicht zuletzt wurde ihnen hier klar, daß zu Hause auch nicht alles zum Besten stehen kann. Doch heute, nach fünf Jahren? „Jeder kann zwar sagen, was er will, ansonsten hat die Zeit dem Volk nur Schlechtes gebracht“, meint Heiner. „Kann die Breschnew-Zeit wirklich soviel schlechter gewesen sein, wenn das Volk zufriedener war?“ Diese Frage hat er seinen Lehrern immer wieder gestellt, aber nie eine Antwort erhalten... Verunsicherung und Angst sitzten tief und schaffen seltsame Koalitionen: DSU-Minister Diestel, der Stasi-Mitarbeiter wieder beschäftigen wollte, sei „ein feiner Mensch, nicht nur weil er einen Anzug trägt“. Mit der Angst im Nacken...
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