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Dreifachstopper und Doppelplatzverweis

In einem dramatischen Spiel besiegt die Bundesrepublik die Niederlande mit 2:1 und erreicht das Viertelfinale gegen die CSFR  ■  Von Matti Lieske

Franz Beckenbauer hatte offensichtlich geahnt, was beim Achtelfinalspiel der Bundesrepublik gegen die alten Bekannten aus den Niederlanden im wohlgefüllten Mailänder Stadion von San Siro auf ihn zukommen würde. Obwohl die Europameister von 1988 in der Vorrunde äußerst dürftigen Fußball geboten hatten, plagte den Teamchef gewaltige Furcht, und er griff auf alte Rezepte von Mexiko 1986 zurück: hinten dicht, und vorne hilft der liebe Dusel. Den Sturmwirbel der kopfballstarken Gullit, Kieft, van Basten gedachte er mit der Taktik eines Dreifachstoppers - Kohler, Buchwald, Augenthaler - flankiert von Reuter, Berthold und Brehme, in Schach zu halten.

Den ersten Strich machte dem Teamchef Kollege Leo Beenhakker durch die Rechnung, als er Kieft schamlos draußen ließ und Beckenbauer plötzlich einen Abwehrhünen übrig hatte. Unangenehm war auch, daß sich die Niederländer in den ersten Minuten von der sechsköpfigen Verteidigerkette keineswegs beirren ließen. Wie in ihren besten Tagen legten sie los, gewannen gegen die nervösen Deutschen fast alle Zweikämpfe, zeigten das schnelle weiträumige Spiel, daß sie vor zwei Jahren zu Europameistern gemacht hatte, und ließen nur die vormalige Torgefährlichkeit vermissen. Mit ihren Chancen gingen sie genauso verschwenderisch um wie einige Stunden zuvor die Brasilianer, und die Vermutung lag nahe, daß sich diese Großzügigkeit in ähnlicher Weise rächen würde.

Nach rund 20 Minuten dann die Schlüsselszene der Begegnung. Rijkaard foulte Völler so brutal, daß durchaus die rote Karte vertretbar gewesen wäre, der argentinische Schiedsrichter ließ es jedoch bei gelb bewenden. Danach gerieten die beiden verbal aneinander, und auch Deutschlands liebster Rudi wurde verwarnt. Darob sichtlich erzürnt sprang Völler, der schon in den Vorbereitungsspielen und in der Vorrunde durch eine gesteigerte Aggressivität, vor allem gegen Torhüter, aufgefallen war, beim nächsten Angriff in notdürftig gebremster Kamikaze-Manier Hollands Keeper van Breukelen an, der sich mit einem mächtigen Satz in Sicherheit bringen konnte. Prompt war wieder Rijkaard da, zog Rudi rüde am Ohr, und der argentinische Schiedsrichter Juan C. Loustau, der ein wenig die Übersicht verloren hatte, schickte kurzerhand beide vom Platz, da er wohl keine Lust verspürte, der unvermeidlichen Fortsetzung dieses Privatduells beizuwohnen. Eine durchaus vertretbare Entscheidung.

Der doppelte Platzverweis half den Deutschen erst mal aus der Bredouille. Während den Niederländern durch den Verlust ihres wichtigsten Aufbauspielers die Linie verloren ging, sorgte Völlers Ausfall für das Aufblühen des Jürgen Klinsmann. Bislang hatte der Italoschwabe meist etwas in Völlers Schatten gestanden, nun als einsame Spitze gab er plötzlich oft drei bis vier Gegnern Rätsel auf. Sein Massenaufgebot an Abwehrspielern ließ Beckenbauer keine andere Wahl, als Leute wie Augenthaler und Buchwald zur Entlastung nach vorn zu schicken, und erstaunlicherweise klappte das sogar. Buchwald war es, der in der 50. Minute im Rollentausch auf dem linken Flügel Aron Winter ausspielte und geschickt zur Mitte flankte, wo Klinsmann den Ball zum 1:0 ins Netz schoß.

Es folgte die beste Phase der Niederländer. Die Angriffe wurden zwingender und Ruud Gullit immer stärker, hatte jedoch ebensolche Schwächen im Abschluß wie van Basten, der, weit von seiner Bestform entfernt, nur einmal an Kohler vorbei kam. Seine exakte Eingabe wurde dem eingewechselten Kieft jedoch von Buchwald vom Fuß stiebitzt. Die beste Gelegenheit vergab Wouters frei vor Illgner, und je mehr Chancen die Niederländer versiebten, desto gefährlicher wurden die Gegenangriffe der Deutschen, die meist von Matthäus und Littbarski eingefädelt wurden. Klinsmann verabschiedete sich mit „Ganzkörperkrämpfen“ (Beckenbauer) und einem krachenden Pfostenschuß, sein Nachfolger Riedle knüpfte jedoch nahtlos an des Interisten große Leistung an.

Dem bis dahin nicht sehr überzeugenden Brehme war es schließlich in der 85. Minute vorbehalten, das hochklassige Match mit einem raffinierten Schuß von der Strafraumgrenze, bei dem van Breukelen die Sicht verdeckt war, zu entscheiden. Da nützte es den Holländern auch nichts mehr, daß van Basten eine Minute vor Schluß endlich jenen Elfmeter bekam, den er in seinen verschiedenen Duellen mit Kohler seit der EM 1988 immer wieder beharrlich gefordert hatte. Ronald Koeman verwandelte zum 1:2; ein Treffer, der allenfalls noch einige Ergebniswetten durcheinanderbringen konnte, für den ehemals heißen WM-Favoriten Niederlande aber nichts als ein winziges Tröpfchen Balsam auf einer schmerzlichen Wunde war.

BR Deutschland: Illgner - Augenthaler - Berthold, Kohler Reuter, Matthäus, Littbarski, Buchwald, Brehme - Völler, Klinsmann (79. Riedle)

Niederlande: van Breukelen - Ronald Koeman - van Aerle (67. Kieft), Rijkaard - van't Schip, Winter, van Tiggelen, Wouters - Witschge (80. Gillhaus) - van Basten, Gullit

Zuschauer: 74.559

Tore: 1:0 Klinsmann (51.), 2:0 Brehme (85.), 2:1 Ronald Koemann (89./Foulelfmeter)

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