: Noch drei Tage Tabula rasa im Ostberliner Handel
■ Die Läden räumen die Lager für den Westwaren-Kaufrausch / Die DDR-Produkte werden verramscht, ein Nachschub ist ungewiß / Läden kündigen ihre Abnahmeverträge mit den DDR-Firmen / Verkäuferinnen versinken in Apathie
Mitte. Hundertmal die gleiche Antwort in den Kaufhäusern rund um den Alex, in den ehemaligen Exquisit-Läden Unter den Linden, in den Tante-Emma-Läden am Prenzlauer Berg oder Pankow: „Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll, fragen Sie doch die Chefin.“ Die Verkäuferinnen stehen vor den leeren Regalen, zucken die Schultern und wissen nur eines: am Wochenende wird geschuftet, denn neue Ware kommt, und die alte muß „umgepreist“ werden. Um welche neue Ware es sich handelt, können sie nur vermuten, und falsch liegen sie damit nicht: Westwaren natürlich.
Der Ausverkauf der DDR-Produkte ist seit Wochen im Gang. Dramatische Preisstürze überall. Die Salamander-Schuhe im HO -Laden „Salopp“ in der Leipziger Straße stürzten von 190 Mark auf 29,60 Mark, und wie billig sie ab Montag sein werden, kann die Verkäuferin nicht beantworten: „Am Wochenende kommen die neuen Preislisten, vielleicht werden die Schuhe dann 15 Mark West kosten.“ Mehr weiß die „Chefin“: „Wir räumen die Lager, ab dem 1. Juli wird mit dem Hamburger Schuhhaus Görtz kooperiert.“ Unklar ist aber auch ihr, wie hoch der Anteil von Schuhen, made in GDR, sein wird. „Gering“, kann sie nur vermuten, denn die Hamburger Schuhkette hat feste Abnahmeverträge mit italienischen und französischen Herstellern.
Die Läden in der Leipziger Straße werden ab 2. Juli fest in westlicher Hand sein, das große Schlucken hat schon begonnen. Ein Eiscafe, vormals HO, hat Mövenpick gepachtet, der Schallplattenladen „Melodie“ wird Verkaufsstelle der „Warren GmbH“, zwei Jeansläden zu Filialen von Westberliner Großhändlern. Absurditäten überall, auch konkurrenzfähig solide DDR-Produkte werden pauschal durch Schleuderpreise abgewertet. Zum Beispiel Schallplatten und - noch widersinniger - Noten. Die gebundenen Bücher mit Chopin -Etüden im Musikhaus Unter den Linden sind für vier Ostmark zu haben, als ob Chopin für den Westen anders komponiert hätte. Verramscht werden die Noten, um Platz zu schaffen für die Musikalien des Bärenreiter-Verlages. Ein ähnliches Bild in den Deutschen Bücherstuben, nahe dem Checkpoint Charlie. Das gesamte Obergeschoß übernimmt der Münchner Beck-Verlag. Die Buchhändlerinnen sind in einem Blitzkurs auf westdeutsche Einkaufspraktiken umgeschult worden, wieviel Platz da noch sein wird „für Eigenes“, wissen sie nicht. „Das Problem sind die Lizenzen“, weiß die Leiterin der Bücherstube, „der Beck-Verlag wird nicht hinnehmen wollen, daß preisgünstige Inselausgaben neben den teureren westdeutschen Lizenzausgaben liegen.“ Das Ergebnis sind volle Grabbelkisten neben der Kasse.
So informiert über die zukünftigen Probleme sind wenige Verkäuferinnen. Die meisten versacken in Unkenntnis, fragen weder die Betriebsgewerkschaftsleiter noch die Chefs über die Folgen der Umstrukturierung ihrer Arbeitsorte. „Irgendwie wird es schon werden.“ Die Agonie, die Unselbständigkeit, jahrelang eine besonders belohnte Qualifikation und eine Voraussetzung, um sich arrangieren zu können, wird eingebracht in den Sprung in die Konkurrenzwirtschaft. Das wird ein Zähneklappern geben, spätestens, wenn die Arbeitsorganisatoren der Westkonzerne die Aufsicht übernehmen.
In den meisten Ostberliner Lebensmittelläden sind sie schon da. Die 90 Kaufhallen und 300 Einzelverkaufsstellen der HO -Filialen, umgegründet in eine „Universal GmbH“, werden seit Wochen umstrukturiert. Die neuen Partner, Kaiser's Kaffee, Meyer oder Rewe, haben ein Teil der neuen Waren schon angeliefert, am Wochenende wird es erst richtig rundgehen. Ostprodukte gibt es kaum mehr, teils weil sie „unverkäuflich“ erscheinen, teils, weil die alte Kette, Produzent-Groß- und Einzelhandel zerrissen ist. Der frühere Monopolist „Waren des täglichen Bedarfs“ (WTB) flüchtet in den Angriff. „Die Läden wollen ihre Lager für Westwaren freihalten“, beschuldigt ein Sprecher die früheren HO -Abnehmer. Für Ende Juni hat der HO WTB alle Bestellverträge mit dem Großhandel storniert, gewaltige Umsatzeinbußen und Massenkündigungen für die 4.600 Mitarbeiter stehen ins Haus.
Die früher alles kontrollierenden staatlichen Behörden können in diesem Durcheinander nicht mehr viel ausrichten. Der Ostberliner Magistrat will in die Marktwirtschaft nicht korrigierend eingreifen. Die Einzelhändler sollen viele DDR -Waren bestellen, empfahl kürzlich Wirtschaftsstadtrat Pieroth weise. Immerhin, die einzelnen Herstellern zugeordneten „Industrieläden“ und der „Konsum“ haben den Ratschlag gehört. Die 64 Kaufhallen, 11 Käufhäuser, 80 Gaststätten und 780 Verkaufsstellen bleiben fest im Besitz der Mitarbeitergesellschaft. „Wir wollen selbstverständlich auch Westprodukte anbieten, werden aber unser Angebot mit DDR-Waren komplettieren“, sagt Konsumsprecher Fricke. Und nicht nur das: „Wir setzen auf die Zukunft, 70 neue Läden sollen bis zum Herbst neueröffnet werden.“
Anita Kugler
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