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 ■  BARCELONA: MEHR DENN JE

Der Tag ist nicht zum Schlafen da.

Die Nacht noch

viel weniger (katalanisches Sprichwort)

Hhalb neun an einem beliebigen Morgen im Spätfrühling. Überdimensionale Leuchtziffern verkünden von der Fassade einer Bank am Placa Catalunya „27 Grad“. Das „Cafe Zürich“ in Barcelona hat seine Rolläden schon vor Stunden hochgezogen. Um Dutzende von Tischchen drängeln sich Menschen. Zwischen Passanten und Barterasse gibt es keine Grenze. Früher der Emigranten-Treff schlechthin, schwatzen und kichern jetzt grell geschminkte Frauen in Vor -Shopping-Freude. Jung-Banker und Büro-Yuppies spülen einen letzten Cortado (Espresso mit Milch) die Kehle hinunter. Ein in die Jahre gekommener Zuhälter, dessen rostbrauner Schädel in der Morgensonne glänzt, die Augen hinter dunklen Gläsern versteckt, versucht drei genervte Huren von seiner Wichtigkeit zu überzeugen. Ein Grüppchen blasser Beaus in zerknitterter Designer-Kluft nippt im Restdelirium der vergangenen Nacht ein Fläschchen Cava, heimischen Schampus. Während eine Gruppe Weltreise-Asiaten, die ein Bus soeben ausgespuckt hat, durch Videokamera-Linsen die Umgebung inspiziert, sortiert ein Straßenmaler, den Joint im Mundwinkel, seine bunten Kreidestummel. Quietschende Reifen, wild hupende Rushhour-Korsos, trillernde Polizisten, knapp brüllende Ober geben eine angemessene Geräuschkulisse. Diesel-Abgase, Kaffee-Dünste, transpirierter Körpersmog mischen sich unangenehm aber bestimmt mit mediterraner Brise.

Una mica de tot - ein bißchen von allem, sagt der Einheimische und skizziert damit den aufregenden Mix von Kulturen, Ansichten und Lebensweisen, welche die konvergente und doch harmonische Struktur der Großurbanisation Barcelona prägen.

Mes que mai

Ob der Reisende von Osten oder Westen kommt, an der Reling eines Schiffes lehnend auf seichter See den Hafen ansteuert oder über die Berge die ersten Vororte erreicht, immer ist die Sicht getrübt. So als wolle die Metropole ihr wirkliches Wesen verschleiern, sorgen Hunderttausende rußender Schornsteine und Millionen Auspuffrohre, daß stets eine schmutzige, grau-gelbliche Glocke über dem Steinmeer von Gebäuden liegt.

Katalanen übersetzen Bar-Cel-Ona in Cafe-Himmel-Welle, was das Mit- und Gegeneinander von Leben auf der Straße, Sonne des Südens und der ökonomischen Lebensader „Hafen“ metaphorisiert.

Barcelona - mes que mai - Barcelona mehr denn je: so die bürgermeisterlich verordnete Werbebotschaft, die mit den drei Einsilbern jedoch exakt das Selbstverständnis der heterogenen Weltstadt ausdrückt. Zwei Millionen Autos, knapp vier Millionen Menschen und acht Millionen Kanalratten zum Trotz, sollte man die Kultur-Kapitale des Südens besuchen. Mindestens eine Woche zum Erkunden des vielschichtigen Terrains sind geboten. Aufgrund des Klimas empfehlen sich Frühjahr und Herbst als optimaler Termin für das Abenteuer „Ciudad Condal“. Schon im Revolutionssommer 1936 notierte der schriftstellernde Anarchist Michail Kolcov: „Hier ist das spanische New York, die schönste Stadt am Mittelmeer. Mit ihren gigantischen Avenuen und Palmen-Boulevards, ihren blendenden Uferpromenaden, ihren phantastischen Villen, in denen die Pracht der byzantinischen Paläste wiedererstanden ist.“

Sehenswürdigkeiten, sonst meist lästige Pflichtübung, lohnen hier: Picasso-Museum, die farbenkräftige Symbolsprache des katalanischen Malers Miro in der gleichnamigen „Fundacio“ oder die gerade eröffnete Werk -Reprospektive des wild-abstrakten Selbstdarstellers Tapies in einem vierstöckigen Gründerzeit-Haus. Pilgerstätte auch die Sagrada Familia, jene mächtige Kathedrale des Modernisten Gaudi, an der heute noch Steinmetze und Bildhauer kräftig herumklopfen.

So pervers es klingt - Kunst ist in Barcelona auf angenehme Weise mit Kommerz liiert. Schon um die Jahrhundertwende war es der Industrie-Magnat Güell, der dem genialen Bau -Propheten Antonio Gaudi Geld und Platz für seine abenteuerlichen wie wegweisenden Vorhaben gab. Noch immer ist der Park Güell nicht nur Attraktion, sondern eine atemberaubende Symbiose aus Skulpturen, Bauten und Natur. Auch jetzt sind es Banken, Versicherungen, große Firmen und selbstverliebte Gönner, die Subkultur, Maler, Designer und Architekten mehr aus Nationalstolz denn aus Imagegründen immens sponsern. Selbst Schaufenster, gewöhnlich eher biedere Warenpräsentation, geraten hier mittels Stoff, Licht und Stein zur Performance, zum visuellen Erlebnis.

Arelio Argenui, Leiter des katalanischen Kulturinstituts resümiert: „Ein bestechendes Identitätsmerkmal unseres Volkes ist der Stolz auf das Gestern und die immerwährende Lust auf das Morgen.“ Das aktuelle Morgen ist der 25. Juli 1992, wenn auf dem „heiligen“ Hausberg Montjuich die Lunte zur olympischen Flamme gezündet wird. Die „magischen fünf Ringe“ leuchten von Laternenpfählen, auf dem Blech der Müllaster, sogar auf U-Bahntickets. Bagger krachen, Fassaden ganzer Straßenzüge werden restauriert und Stadtteilparks als Grünoasen im Mauerwald angelegt. Facelifting für das große Ziel „Olympia“ allerorten. Auf der Negativliste bleibt, daß von der Ananas bis zur Zahnpasta alles unverhältnismäßig teurer ist als im Rest des Landes. Dazu bluten die tristen Vororte gegenüber dem repräsentativen Stadtzentrum immer weiter aus. Bisweilen wird mehr wegplaniert als planvoll saniert.

Pulsierende Ramblas

Auf den Ramblas, der urban gewordenen Spur eines alten Flußlaufs, die sich vom Hausberg Tibidabo über drei Kilometer wie eine Nabelschnur zum Hafen zieht, wird Schlendern zur Sucht. Dieser von meterhohen Palmen und Pinien umsäumte Bummel-Boulevard ist nicht nur offener Verkaufsstand für Affen- und Papageien-Händler, Kunstmarkt und Transvestitenstrich. Hier feiern die Fans des FC Barcelona ihre Siege und beklagen mit Pflastersteinen ihre Niederlagen. „Wer die Ramblas hat, dem gehört die Stadt“, lautete während des Bürgerkriegs ein geflügeltes Wort. Noch heute beginnt und endet jede Demo auf dem Asphalt dieser Straße. Alle hundert Meter bunte Kioske. Harte Pornoware kämpft gegen Kunstbände; BILD hängt neben Untergrundliteraur; die Königsfamilie starrt von großen Postern auf Mao-Bibeln und Che Guevara-Bändchen. Multikulturell und widersprüchlich wie das katalanische Völkchen.

Wagt sich der Stadtstreifer von den unteren Ramblas nach links in eine der schmalen, düsteren Nebengassen, so findet er Einlaß in das originäre und antike Barcelona - Barri Gotic gennant. Alte schmuddlige Handwerksbetriebe liegen Tür an Tür mit properen Boutiquen. Vor einem Literatenklub diskutiert die intellektuelle Boheme, derweil gegenüber im Minutentakt die Pforte zu einem Billig-Puff klappt.

Von hier ist es nicht mehr weit zur Barcelonetta, dem ehemaligen Fischerdorf, das heute zum Stadtteil mutiert ist. Zur Zeit werden drei Kilometer Stadtstrand angelegt, doch die sicht- und riechbare Nähe der toxisch verseuchten Hafenpiers stellt deren künftige Nutzung in Frage. Noch haben Immobilienhaie hinter den vom salzigen Mittelmeerwind angefressenen Mauern nicht Fuß fassen können, und so gibt es in beinah jeder Fischkneipe erlesene Meeresspeisen zu Billigst-Preisen. Prosperierender Drogenkonsum führt gerade hier dazu, daß Touristen besser ohne Geld, Schmuck und Taschen auf Tour gehen. Die Pro-Kopf-Kriminalität ist europäische Spitze, und die Arbeitslosigkeit liegt in dem Viertel bei 40 Prozent.

Bona Nit - gute Nacht

Nachdem sich der Barcelonese während des Tages bei Arbeit und reichlich Tapas-Essen erholt, beginnt er nachts zu leben. Die Restaurants öffnen erst um 22 Uhr. Polizeistunde ist in den zahlreichen Musikkneipen, Varietes, Bars und postmodernen Discotheken erst, wenn über dem Mittelmeer die rotglühende Sonne aufsteigt.

Spätabends auf dem Placa Real, dem königlichen Platz, der mit seinen Marmor-Kaskaden und sandfarbenen Stein-Arkaden wie ein überdimensionierter Klosterhof erscheint: Hunderte Cafe-Tische sind besetzt. Touristengrüppchen sind an Hautfarbe, Kleidung und Tonlage unschwer zu identifizieren. Vivaldi-Klänge einer Querflöte, die zart geblasen wird, hallen über den Platz. Die Tauben können nicht schlafen und kacken von Palmen und Zinnen um die Wette. Irritierend die Präsenz von Kleinbussen mit den blauen Lettern „Policia Nacional“. Am Nachbartisch fällt ein junges Mädchen vom Stuhl. Ein Ober kommt. Ein Pfiff. Schnauzbärtige Guardia Civil sammeln das aus der Tasche gefallene Heroin-Besteck ein. Kaum einer nimmt Notiz, als der schmächtige Körper auf eine Bare gebettet wird. Die Mondsichel glotzt skeptisch von rechts oben, als einer der vielen Dealer Minuten später an den Tisch tritt und laut fragt, wer denn nun was wolle. Er hätte nämlich „alles“. Ein Kerlchen, das sich als Philosophiestudent entpuppt, winkt ihn weg und erklärt, während er sein Whiskyglas zitternd auf dem Tischblech deponiert: „Wir leben in Barcelona und Barcelona lebt in uns. Barcelona ist nichts ohne uns, wir nichts ohne Barcelona. Das ist doch schizophren, oder? Ich frage mich nur, wer ist schizophen, Barcelona oder wir?“

Nikolas Marten

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