: Eine zweite Stunde Null
■ Morgen tritt der Staatsvertrag in Kraft: Die DDR führt die BRD-Mark ein
Am Sonntag, null Uhr, beginnt ein gigantisches Experiment an leben
den Menschen: Niemand kann die Folgen der Währungsunion ab
schätzen. 25 Milliarden D-Mark wurden als Anfangskapital in die DDR
gekarrt, die Ost-Mark-Scheine hingegen werden verbrannt.
Die D-Mark ist angeliefert. Das zentrale Versprechen, mit dem nach vier Jahrzehnten Realsozialismus die politische Landschaft der Noch-DDR schon im ersten Wahlgang konservativ gewendet wurde, wird eingelöst. Nicht der Beitritt zum Grundgesetz, sondern der symbolisch aufgeladene Umtausch vom Wochenende markiert für die erdrückende Mehrheit der DDR -BürgerInnen die Ankunft im „einig Vaterland“. Eine verspätete Stunde Null, zugleich die Realisierung eines Wunschtraums, der seine Attraktivität aus dem Kontrast zur vierzigjährigen Misere aus Unterdrückung und Ärmlichkeit gewinnt. Die D-Mark steht für das ersehnte Ende demütigender Erfahrungen: in den Warteschlangen vor mageren Auslagen, auf der Jagd nach dem Handwerker, der auch fürs Ostgeld tätig wird, bei den Reisen zur saturierten Westverwandtschaft oder ins „befreundete“ Ausland als „Deutsche zweiter Klasse“.
Anders als die Bundesdeutschen haben die DDR-BürgerInnen immer in der stechenden Spannung zur anderen Hälfte gelebt, der man aus bloßem Zufall nicht angehörte. Die D-Mark ist deshalb nicht nur eine Option auf die bessere Zukunft; ihr Besitz muß jetzt auch rückwirkend die eingelebten Minderwertigkeitsgefühle kompensieren, die im schmerzlich erfahrenen Qualitätsgefälle von Ost- zu Westmark ihren sinnfälligsten Ausdruck fanden. Der Umtausch wird nicht als Geschenk, sondern als Wiedergutmachung empfunden.
Gerade deshalb war es eine eminente Fehlkalkulation, daß die Bundesregierung glaubte, nach der DDR-Wahl den versprochenen Umtauschkurs von 1:1 in 1:2 moderieren zu können. Indem die Bonner - wie nach geglückten BRD-Wahlen üblich - die Kosten für den Sieg ein bißchen drücken und die Risiken der Währungsunion senken wollten, brachten sie um ein Haar das hochsensible Bündnis zwischen D-Mark-Verwaltern und Wahlvolk zum Platzen. Wie schon bei der prinzipiellen Entscheidung für das riskante Experiment hatte der sonst immer als letzte Instanz zitierte „finanzpolitische Sachverstand“ des Zentralbankrates auch in der Kursfrage das Nachsehen.
Ein überfrachtetes
Versprechen
Zwar wird auch am Sonntag nur ein Teil der Sparguthaben zum Kurs 1:1 umgestellt. Doch das scheint unerheblich angesichts der Tatsache, daß zumindest für einen Teil die Parität gilt. Der kurzzeitig avisierte Generalkurs von 1:2 hingegen klang nach Verlängerung der deutsch-deutschen Ungleichheit in die neue Zeit, nach Festschreibung von Potenz und Impotenz, von westlicher Überlegenheit und östlicher Schwäche. Spätestens mit dem Sturm der Entrüstung, der die 1:2-Idee hinwegfegte, wurde deutlich, daß der Kurs anderes bedeutet als das Austauschverhältnis ungleicher Währungen und seine Konsequenzen für die Familienökonomie. 1:1 meint die symbolische Einebnung des leidvollen deutsch-deutschen Gefälles.
Die schnelle Währungsunion ist von ihrem Gehalt her ein überfrachtetes und deshalb hochkomplexes Versprechen. Verdichtet auf das Verhältnis zweier Zahlen, die ihre märchenhafte Überzeugungskraft vor dem tristen Erfahrungshintergrund der DDR-Geschichte entfalteten, erwies es sich schlicht als unschlagbar. Der Startvorteil der Sozialdemokraten aus der Opposition zum akzeptierten Partner der West-SPD verblaßte vor diesem Angebot ebenso wie der Appell der Bürgerbewegungen an das Selbstbewußtsein der DDR -Bürger. Umgekehrt verlor die Blockvergangenheit der CDU angesichts des D-Mark-Versprechens ihre diskreditierende Kraft. Daß Allianzpartner Ebeling seine Kirchentore vor den Oktober-Aufrührern verrammelt hielt, blieb nichts als ein pikantes Apercu. Die Urheberschaft der SPD an der Währungsunion wurde angesichts der Kohlschen Verteilungskompetenz zur bloßen ironisch-tragischen Fußnote, die das vergebliche Agieren der Sozialdemokraten im patriotischen Wettlauf noch einmal verdeutlichte.
Ein „fantastischer
Vorschlag“
Dabei brauchten die Konservativen eine ganze Weile, bis sie begriffen, welch geniales Ding ihnen die SPD da ausgebrütet hatte. Anfänglich wurde die schnelle Währungsunion aus dem Finanzministerium - unfreiwillig weitsichtig - als „fantastischer Vorschlag“ abqualifiziert. Bundesbankchef Pöhl schüttelte noch irritiert den Kopf, als Kanzler Kohl in Berlin den Wahlkampfselbstläufer schon installiert hatte. Nicht mit ökonomischen, sondern nur mit politischen Argumenten konnte Pöhl sein Wendemanöver rechtfertigen.
Nach dem Umtauschsonntag müssen die ökonomischen Gegenargumente jetzt real widerlegt oder bestätigt werden. Immerhin eine irritierende Vorstellung, ließen doch die DDR -BürgerInnen spätestens seit dem 9. November in einer Sache keinen Zweifel aufkommen: Nach vierzig Jahren Realsozialismus war mit ihnen ein erneutes gesellschaftliches und ökonomisches Experiment nicht mehr zu machen. Daß es sich bei der über Nacht anberaumten Umstellung der DDR-Ökonomie auf marktwirtschaftliche Verhältnisse bei gleichzeitiger Währungsankoppelung an die leistungsstärkste Exportwirtschaft der Welt aber eben doch um ein gigantisches Experiment mit „unbekannten Gefahren“ handelt, schwant auch SPD-Finanzminister Romberg. Ausgerechnet der geradlinigste und integerste Minister im DDR-Kabinett mußte mit Leichenbittermine seine Unterschrift unter den Staatsvertrag setzen. Auch das gehört zur verqueren Rolle, die der SPD im Einheitsprozeß zugefallen ist. Immerhin quält sich Romberg vor dem Tag X ein wenig selbstbewußten Optimismus ab: In drei Monaten sei bewältigt worden, wozu man eigentlich Jahre bräuchte.
Doch was da bewältigt wurde, ist ja nicht das absehbare Schockerlebnis, das der Einbruch ökonomischer Rationalität in die gegängelt-behütete DDR-Gesellschaft bewirken wird. Bewältigt wurde bislang lediglich der Papierkram im Zusammenhang mit der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Birgt das Experiment selbst unzweifelhaft ökonomische Risiken, so bedeutet die Art und Weise seiner politischen Durchsetzung eine schwere politische Hypothek für das entstehende Gesamtdeutschland. Abgesehen davon, daß die gerade erstmals demokratisch legitimierte Volkskammer mit dem Staatsvertrag einen entscheidenden Teil ihrer gesetzgeberischen Souveränität sogleich an die Bundesregierung abgab, degradierte sich das Parlament mit der paketweisen Übernahme bundesrepublikanischer Gesetze nahezu widerstandslos zur bloßen Abstimmungsmaschine. Was die Kommentatoren nach jedem Plenum mit den Worten „keine Sternstunde des Parlaments“ noch wohlwollend umschrieben, war nichts anderes als seine wissentliche Kapitulation vor den deutsch-deutschen Regierungsvorgaben.
In politischer Hinsicht ist so das 1:1 schon vor seiner Inkraftsetzung teuer erkauft. Mit der ständigen Unterschreitung der ohnehin nicht hohen parlamentarischen Standards der BRD sind von der Volkskammer kaum positive Impulse für die politische Kultur des Einheitsstaates zu erwarten. Es ist zu befürchten, daß das Ostberliner Übergangsstück neue Maßstäbe für den gefügigen gesamtdeutschen Parlamentarier setzt. Die Herbst-Hoffnung jedenfalls, das erzwungene Ende des SED-Regimes werde einen gesamtdeutschen Demokratieschub bewirken, ist aus den jüngsten Erfahrungen kaum ableitbar.
Auch für die Bewältigung der Währungsunion ist die Form ihrer politischen Durchsetzung nicht bedeutungslos. Die Akzeptanz der neuetablierten DDR-Politik rührt zweifellos von der unverzüglichen Einlösung des überfrachteten Wahlversprechens her. Doch wenn in den nächsten Monaten für die DDR-BürgerInnen erfahrbar wird, daß die Einführung der „echten“ Mark nicht schon das Ende der ökonomischen Durststrecke bedeutet, sind DDR-Regierung und Parlament denkbar schlecht vorbereitet. Sie haben buchstäblich alles auf eine Karte gesetzt, ihre Autorität steht und fällt mit dem Erfolg des Experiments. Eine andere, die auf Vermittlung und Argumentation gründet, haben sie in den drei Monaten nicht erworben.
Matthias Geis
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen