: Zwischen Mafia und Demokratie
■ Die Reformperspektiven und der 28. Parteitag der KPdSU
INTERVIEW
taz: Die letzte Woche hat ein Wiederaufleben des Konservatismus offenbart. Spiegelt sich darin die resignative Stimmung in der Bevölkerung wider?
Tatjana Sasslawskaja: Es war ein totaler Sieg der konservativen Kräfte. Aber diese Atmosphäre deckt sich auf keinen Fall mit der derzeitigen Stimmung in der Bevölkerung. Wie gerade aus einer Umfrage hervorging, stehen 42 Prozent der Bevölkerung den Zielen der Demokratischen Plattform nahe. Auf dem KPdSU-Parteikongreß werden sie aber als Delegierte nur mit zwei Prozent vertreten sein.
Schon vor drei Jahren haben Sie davor gewarnt, daß Kompromisse gegenüber den alten Kräften den Erfolg der Perestroika am ärgsten gefährden könnten. Folgt die derzeitige Politik der Zentristen nun nicht exakt diesem Muster?
Ja, in der Tat. Und es ist sehr gefährlich. Das Zentrum gibt buchstäblich jeden Tag dem Druck von rechts nach. Im Unterschied zu den Konservativen und zum Zentrum können sich die Radikalen auf eine breite gesellschaftliche Bewegung stützen. Und genau diese Kraft „von unten“ hält sie davon ab, sich auf Kompromisse einzulassen. Das hat unter anderem der Kongreß der Bergarbeiter letzte Woche gezeigt, er war weitaus schärfer als es die Radikalen sind.
Läßt sich wirklich so ohne weiteres sagen, bei dem Protest der „Schachtiori“ handele es sich um eine rein politische, nach gesellschaftlicher Emanzipation strebende Bewegung?
In ihrem Streikaufruf zum 11. Juli, der ja auch in unserer Nachrichtensendung „Wremja“ gesendet worden ist, haben die Arbeiter das Mehrparteiensystem gefordert und gewarnt: „Vertraut nicht der Regierung“.
Von mehr Geld war da keine Rede. Der Vertreter sprach ausdrücklich von einem politischen Streik.
Aber die ökonomischen Reformen wurden gerade wegen des Protestes in der Bevölkerung aufgeschoben. Das liegt doch nicht an der mangelnden Einsicht der Regierung?
Natürlich zielen die Reformen auf den wirklichen Nerv des Ganzen, auf die Frage nach den Eigentumsverhältnissen verbunden mit dem Recht auf persönlichen Profit. Daher ist es nur allzu verständlich, wenn sich Protest regt. Es wird Gewinner und Verlierer geben. Der Verlierer wird aber erst einmal harten Widerstand leisten. Zu den eindeutigen Verlierern gehören vor allem drei soziale Gruppen: Partei und Staatsapparat oder genauer: die Bezirksparteikomitees. Bisher konnten sie auf der horizontalen Ebene tun und lassen, was sie wollten mit dem Eigentum. Jetzt geht dieses Recht nach und nach in die Kompetenzen der Republiken über. In vertikaler Richtung sind die Zuständigkeiten ebenfalls auf untergeordnete Organe übergegangen, mit der eindeutigen Tendenz weg von der Moskauer Zentrale. Auf dem Lande gerieren sich die Apparatschiks ohne Einschränkung noch als die absoluten Hausherren. Die neuen Bedingungen reduzieren ihre Rolle aber auf politische und ideologische Funktionen, sie sind nur noch im Überbau präsent. Daher setzen sie alles dran, um die Perestroika zu unterminieren. Hauptziel ihrer Tätigkeit ist die Sabotage: Zunächst blockierten sie die Umsetzung der Gesetze. Dann merkten sie bald, das allein reiche nicht aus. Als Konsequenz setzen sie jetzt alles dran, die auch unter ihnen heterogenen Kräfte zu sammeln und zu vereinigen. Die „Vereinigte Front der Arbeiter“ (Interfront) ist so ein Produkt, die nicht nur einen politischen Kampf führen kann, sondern auch das Potential entwickeln könnte, einen Sturz Gorbatschows zu forcieren. Es geht um die nackte Macht und um nichts anderes. Bestes Beispiel war die Gründung der Russischen KP. Hier haben sie ihre fletschenden Zähne gezeigt.
Die zweite Gruppe sind die Arbeiter im Handel und im Dienstleistungssektor. Ihre Zahl ist gewaltig und sie haben das Leben aller Menschen in der Hand, sitzen ihnen geradezu im Nacken. Sie haben nicht das geringste Interesse an einem Gelingen der Reformen. Ihr einziges Ziel dient dem Profit aus dreckigen Geschäften. Sie sind Parasiten der Defizitgesellschaft. Mit dem Erfolg der Perestroika würden sie wieder zu ganz normalen Menschen. Die dritte Gruppe ist die übelste und gefährlichste von allen. Wenn sich das dann zum Triumvirat „Partei-Handel-Mafia“ entwickelt, entsteht daraus eine kriminelle Supermacht. Die Parteileute sorgen dafür, daß das Gesetz nicht gegen sie zur Anwendung kommt. Die Miliz gehört natürlich auch zu diesem Trust. Nur die Gesellschaft hat keinen Anwalt. Dieses Dreigespann ist der Angelpunkt und die wichtigste Quelle des Widerstandes. Auch auf dem Lande haben sich solche Syndikate herausentwickelt, aber in den Städten ist es noch schlimmer. Ihre politische Kraft ist immens. Nur ein Beispiel sind die Ersten Sekretäre in den südlichen Republiken wie Raschidow, Aleejew, Kunajew... Ihr finanzieller Hintergrund war schier unbegrenzt - mehrere Hundert Milliarden Rubel! Und dieses Geld ging in den bewußten Kampf gegen die Perestroika.
Glauben Sie, daß aus individuellen Machtgelüsten und Profitstreben in diesen Republiken der Nationalitätenkonflikt angeheizt wurde?
Ich bin überzeugt, sie mobilisieren absichtlich kriminelle Kräfte, um den Nationalitätenkonflikt anzuheizen. Und die Provokateure werden gut bezahlt. Ich kann mir mir nicht vorstellen, daß Völker so lange ohne größere Probleme zusammengelebt haben und auf einmal entsteht so ein Pulverfaß. Wo sind die Widersprüche, die zu solchen Konflikten führen, früher waren sie friedliche Nachbarn. In Sumgait hat sich gezeigt, daß Provokateure aus den Gefängnissen entlassen wurden, um Gewalt auszuüben. Wenn Historiker einmal über die Perestroika schreiben, stehen sich zwei Seiten gegenüber: Auf der einen die demokratischen Kräfte, denen es an Geld und Kampfmitteln mangelt und auf der anderen die Mafiosi mit erheblichem Einfluß.
Das klingt sehr nach Verschwörungstheorie, schwerwiegende Fehler in der Nationalitätenpolitik lassen sich doch heute nicht mehr leugnen. Kann dieses Konglomerat aus ökonomischer Unzufriedenheit, sozialer Verunsicherung und aggressiven nationalen Interessen zu einem Bürgerkrieg führen?
Ausschließen läßt sich das zur Zeit nicht. Natürlich wird es nicht die Formen des Amerikanischen Bürgerkrieges annehmen. Aber es könnte sich wie in Rumänien entwickeln. Dort herrscht zwar kein Bürgerkrieg, aber die Leute sind bewaffnet und die Kämpfe sind blutig. Ähnliches mag auch hier geschehen, wenn die Konservativen weiter die Umgestaltung behindern und die Forderung der Massen ignorieren. Es bedarf nur eines Funkens, um das Feuer zu entfachen. Im Falle der Schachtiori fiel noch kein konkreter Hinweis auf die Bereitschaft zur Gewaltanwendung, aber zwischen den Zeilen konnte man schon das Entweder Oder herauslesen. Morgen könnte es bereits soweit sein.
Wenn der 28. Kongreß der KPdSU zu einem Siegesfeldzug der Konservativen werden sollte, wird das eine riesige Empörung nach sich ziehen, die vor Gewalt nicht zurückschreckt. Aber trotz allem wird daraus keine bürgerkriegsähnliche Situation entstehen, weil die demokratischen Kräfte zu einflußreich sind. Wenn die Demonstranten zum Parteibüro marschieren und die Konservativen herausfordern, hauen die durch den Hinterausgang ab. Daher halte ich eher einen Aufstand als einen Bürgerkrieg für möglich.
Wäre es nicht vernünftiger die Situation durch eine Spaltung der Partei zu klären?
Ich glaube nicht an eine Spaltung der Partei, weil nur wenig Vertreter der Demokratischen Plattform vertreten sein werden. Die Konservativen werden mehr oder weniger unter sich sein. Sie werden sogar erstaunt über die Einstimmigkeit sein. Aber das heißt nicht, daß sich eine Spaltung aufhalten ließe. Denn die Gesellschaft ist überreif dafür. Als Ergebnis wird neben der KP eine sozialdemokratische Partei entstehen, aber die Mehrheit, die nicht mit diesem Weg übereinstimmt, bleibt parteilos.
Interview: Klaus-Helge Donath
Tatjana Sasslawskaja ist eine führenden Wirtschaftstheoretikerinnen der Sowjetunion. Schon in der Breschnew-Zeit formulierte sie radikale ökonomische Reformvorschläge.
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