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Abschied von der West-Mark

■ Eine gesellschaftliche Katastrophe

Für das nun anscheinend doch nicht existierende oder gar nie existiert habende Staatsvolk der DDR, jedenfalls für einen Großteil dieser administrativ, lokal, ökonomisch und kulturell zusammengepreßten Menschenmenge, bringt der 1. Juli 1990 den Abschied vom wichtigsten Zahlungsmittel: Das Original West-Geld wird als Währung ungültig!

Durch diesen, jede vernüftige Inflation in den Schatten stellenden finanzpolitischen Ruin wird die Gesellschaft Deutsch-Ost vor ihr größtes soziales Problem gestellt. Wie sollen Menschen, die bisher im Intershop ihre Daseinsberechtigung nicht zum geringen Teil gefunden haben, wie sollen sie jetzt, auf der Suche nach dem Anderen, dem Besseren und Schöneren, dem Schäumenderen, dem Pfefferminzigeren, dem Tabakigeren usw., ihre gewachsenen Bedürfnisse befriedigen?

All die Mitbürger, die ihre durchaus als Widerstand gegen das alte Regime zu wertende soziale Unabhängigkeit von Waren täglichen Bedarfs, KWV-Handwerkern, gastronomischen Erlebnisbereichen hart erkauften, all die werden in eine tiefe soziale und psychische Krise schlittern, gegen die der geballte Frust von ein oder zwei oder vier Millionen Arbeitslosen ein Klacks ist. Für diese gibt es soziale Abfederung, gute Worte, eine starke Polizei. Sozialtherapie ist nicht in Sicht, und ebenso wie den Suchtmittelabhängigen die bedingte Freigabe der Drogen nicht helfen kann und darf, wird jenen die Freigabe der West-Mark nicht helfen.

Wenn jeder, vom Assi bis zum ehemaligen Stasi, das Klopapier für Westgeld nicht nur kaufen kann, sondern muß, sinkt das Selbstwertgefühl der aufrichtigen Überzeugungstäter auf den Nullpunkt. Die Identitätskrisen der vielen Opfer werden in ihrer Mortalitätsrate denen von Straßenverkehr und Aids nicht nachstehen, und nur, weil das DDR-Volk eigentlich nie existiert hat, können sich solche Nicht-Existenzen eigentlich auch nicht der Selbsttötung unterziehen. Möge uns daraus Hoffnung erwachsen.

M. H.

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