: Brasilien: Hart an der Grenze zur sozialen Explosion
■ Der brasilianische Präsident Collor de Mello ist mit seinem Wirtschaftsprogramm gescheitert / Regierung hat sich dem Druck aus den USA gebeugt
Von Gabi Weber
„Die Wirtschaftspolitik, die wir heute verkünden, bricht völlig mit der Vergangenheit“ - mit diesen Worten versprach letzte Woche die junge brasilianische Wirtschaftsministerin Zelia Cardoso de Mello den Aufbruch zu neuen Ufern: „Alles bisher Praktizierte wird verschwinden.“ Die Importe werden liberalisiert, die Schutzzölle gesenkt und die Subventionen für die Industrie gestrichen.
Auch ein jahrelanger Streit zwischen Brasilia und Washington wurde zugunsten der Vereinigten Staaten entschieden: Die Collor-Regierung hat sich jetzt verpflichtet, in Zukunft „intellektuelles Eigentum an Industrieprodukten“, Copyright auf Software und Patente für Medikamente zu respektieren und entsprechende Abgaben zu entrichten.
Bereits am 1.Juli wurden die Einfuhrbeschränkungen aufgehoben, mit denen die einheimische Industrie vor der übermächtigen Konkurrenz aus dem Norden geschützt wurde bisher wurden alle Produkte, die im Land hergestellt werden können, auf einen Index gesetzt. Nun wird die Einfuhr dieser Waren nur noch mit einer geringen Steuer belegt. Weitere Neuerung: Die Unternehmen müssen statt mindestens 85 nur noch 70 Prozent ihrer Einkäufe bei brasilianischen Zulieferern tätigen.
Gerade dreieinhalb Monate im Amt, zieht die Regierung von Präsident Fernando Collor de Mello einen Schlußstrich unter den Protektionismus, der von 1964 bis 1984 durch die Militärs und die demokratische Übergangsregierung Sarney praktiziert wurde.
Vor allem das Verbot, Computer einzuführen oder von ausländischen Firmen im Amazonasstaat herstellen zu lassen, war der US-Konkurrenz stets ein Dorn im Auge. Nur bei strenger Abschirmung vor den überlegenen Ausländern, so die jahrzehntelange Faustregel, könne ein eigener technischer Nachwuchs herangebildet und ein unabhängiger Weg eingeschlagen werden.
Die Realität gab dieser Annahme Recht: Obwohl Brasilien in vieler Hinsicht ein rückständiges Agrarland ist, sind Computer made in Brazil zum Exportschlager geworden; sie finden vor allem in der „Dritten Welt“ Anklang. Aber auch im eigenen Land hat die Elektronik alle Bereiche der Dienstleistungen und der Produktion erobert. Im Mai wurde unter der Leitung der Universität von Sao Paulo eine Waschmittelfabrik mit computergesteuerten Produktionsstraßen eingeweiht, die von einem einzigen Ingenieur bedient werden kann.
„Die Liberalisierung ist ein entscheidender Schritt für die Modernisierung, um angesichts der veränderten Weltlage unser Land in den Weltmarkt zu integrieren“, begründete die Ministerin, warum sie sich dem Druck aus Washington gebeugt habe. Doch statt des gelobten „revolutionären Wandels“, so Cardoso de Mello, handelt es sich bei dem neuen Maßnahmenpaket nur um einen Griff in die neoliberale Mottenkiste. Ein Blick nach nebenan führt die Folgen der Schocktherapie vor Augen. Dem rauhen Wind des Weltmarktes verdanken die chilenischen, argentinischen und uruguayischen Unternehmer nicht die Modernisierung, sondern die Schließung ihrer Fabriken.
„Ich habe nur eine Kugel, und die muß treffen“, hatte Präsident Collor im März bei seinem Regierungsantritt prophezeit und versprochen, die Inflation von monatlich 84 Prozent auf Null zu drücken. Mit einem spektakulären Dekret ließ er 115 Milliarden Dollar auf Giro-, Spar- und Anlagekonten einfrieren. Diese radikale Beschränkung der Geldmenge, so monetaristischer Glaubensgrundsatz, verhindere ein Ansteigen der Preise. Diese Annahme hat sich als unhaltbar erwiesen. Heute ist der Dollar nach seinem März -Tiefflug von 45 Cruzeiros bei fast 100 angelangt. Auch die Inflation ist erneut außer Kontrolle geraten.
Etwa ein Dutzend Institutionen ermitteln die Inflationsrate, und bislang wählte die Regierung eine Berechnung - meist die günstigste - als offiziellen Index aus, um Zinsen, Mieten und Löhne der Steigerung der Lebenshaltungskosten anzugleichen. Seit Collor gibt es diesen „offiziellen Index“ nicht mehr. Selbst wenn man die optimistischen Berechnungen zugrunde legt, ist die Inflation im April auf über drei Prozent gestiegen, im Mai auf acht Prozent. Nur der unverwüstliche Collor läßt sich nicht beeindrucken und macht seinem Ruf als Präsidentendarsteller alle Ehre. Vor laufenden Fernsehkameras füllte er in einem Supermarkt einen Korb mit denselben Artikeln wie im Vormonat und stellte fest: Die Preise sind um 11,2 Prozent gefallen!
Ein Grund für das Scheitern des Collor-Plans liegt wohl darin, daß die Geldmenge nicht wirklich eingeschränkt wurde. Nach der Einfrierung ihrer Guthaben versilberten viele Brasilianer Wertpapiere, und deshalb mußte allein im März die Zentralbank viermal mehr Geld drucken als im Vormonat; die Geldmenge stieg offiziellen Angaben zufolge von acht auf 14 Prozent des Bruttosozialprodukts.
Andere wiederum konnten wohl rechtzeitig ihre Schäfchen ins Trockene bringen. Der sozialistische Senator Jamil Haddad hatte die Wirtschaftsministerin beschuldigt, Freunde und Großunternehmen rechtzeitig gewarnt zu haben. Anfang März waren nachweislich zahlreiche Konten leergeräumt worden, so daß der Verdacht naheliegt, daß es sich bei den am 16.März eingefrorenen 115 Milliarden Dollar nur noch um die Ersparnisse der Mittelschicht, nicht aber um die Finanzen des Großkapitals gehandelt habe. Der Senat hatte vergeblich Frau Cardoso um Auskunft gebeten, wer zwischen dem 15. Februar und dem 15.März mehr als 10.000 Dollar von seinem Konto abgehoben hatte. Darüber, so sickerte durch, soll eine lange Liste Aufschluß geben, die acht Kilo wiege.
Für den Internationalen Währungsfonds läuft alles nach Drehbuch. Dem argentinischen Vorbild gemäß erfüllte die neue Regierung bisher alle Forderungen des IWF: Verkleinerung des Binnenmarktes durch Einfrierung der Sparkonten, was die Nachfrage senkte, bedingungslose Integration in den Weltmarkt durch Aufhebung der Schutzzölle und Importbeschränkungen, was angesichts der übermächtigen Konkurrenz zur Zerstörung des produktiven Apparats führt, Erhöhung der öffentlichen Gebühren und Verwaltungsreform, das heißt massiver Rausschmiß von Staatsbediensteten, damit das Haushaltsdefizit geringer wird und die Auslandsschulden gezahlt werden.
Um den IWF vollständig zu befriedigen, fehlen im Szenarium nur noch zwei Punkte, die in Argentinien gerade in die Praxis umgesetzt werden: Verkauf von Staatsbetrieben und Naturvorkommen über billige Schuldscheine, und die Beschneidung des Verteidigungshaushaltes.
Nachdem sich die „Geldmengentheorie“ nicht mehr als geeignete Waffe gegen die Inflation verkaufen läßt, schlug nun die Collor-Regierung andere neoliberale Töne an. Schuld seien die Gewerkschaften, die mit ständigen Lohnforderungen die Preise in die Höhe treiben, verkündete der Präsident und hob die automatische Angleichung der Löhne an die Inflation auf. Obwohl nach neoliberaler Vorstellung einzig der Markt über Preise und Löhne bestimmen soll, formulierte Collor in einem Aufwasch einen Gesetzesvorschlag, nach dem das Bundesarbeitsgericht in den kommenden 150 Tagen Lohnerhöhungen rückgängig machen darf. Dieses Vorhaben wurde im Parlament abgelehnt.
Seit Collors Amtsantritt ist der Reallohn um 31 Prozent gefallen, und allein im Großraum Sao Paulo ist die Arbeitslosigkeit von 9,6 auf 11,6 Prozent gestiegen - „hart an der Grenze zur sozialen Explosion“, malt die Zeitschrift 'Istoe‘ an die Wand. „Innerhalb weniger Tage hat sich das Spektrum radikal geändert; während vorher jeder Protest aus Angst um den Arbeitsplatz abgeblockt wurde, gewinnt das Wort Streik zunehmend an Bedeutung. Präsident Collor bewegt sich auf vermintem Gelände.“
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