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„Hier ist alles halb so teuer“

■ Beim ersten verkaufsoffenen Samstag in der Währungsunion geht's um die Wurst: Ostberliner und DDRler stürmen Billigparadies West-Berlin / Eine Reportage aus dem Konsumgebirge

Steglitz. Am Eingang sind alle Einkaufskörbe weg. Im Euromarkt im Einkaufszentrum Steglitz zwängt sich eine 83jährige Rentnerin aus West-Berlin unter der verchromten Absperrung durch, eilt mit ihrem zweirädrigen Handwagen zu den Kassen und versucht dort ein rollendes Drahtgestell zu ergattern. Am gestrigen Freitag nachmittag - einen Tag vor dem ersten „langen“ Samstag seit Beginn der Währungsunion sind die Schlangen vor den Supermarktkassen in der Schloßstraße auf über zwanzig Meter Länge angeschwollen. Hinter jedem zweiten Einkaufswagen verbergen sich Ostberliner oder DDR-Familien. Die Körbe sind prall gefüllt, doch jede zweite Kasse ist unbesetzt.

Am Kühlregal guckt eine Mecklenburger Familie auf die Preise, und die 25jährige Cornelia Beck kommt ins Schwärmen: „Hier kostet der Joghurt nur die Hälfte.“ Auch die Wurst sei in Mecklenburg teurer als in West-Berlin und dabei die gleiche wie vor der Währungsunion, wundert sich Mirek Beck (26), Mitarbeiter einer Pflanzen-LPG. Die Becks haben in den Korb geladen, was haltbar ist: Gefrierpizza, Wurst- und Gurkengläser. Daniela (6) und Juliane (4) kommen mit rosa eingepackten Barbie-Puppen angelaufen. Daniela drückt auf den Bauch des Kitschspielzeugs und strahlt: „Die Püppi singt“ - doch die Puppe mit Idealgewicht piepst wie ein elktronischer Wecker im Morgengrauen. Der zweijährige Andreas, der im Einkaufskorb über bunten Lebensmittelverpackungen hockt, guckt in der Milchproduktabteilung gelangweilt herum. Das Neonlicht macht ihn blaß.

Die Becks haben Glück, daß sie schon gestern einkaufen waren. Für heute erwartet der Gesamtverband Einzelhandel einen „Käuferansturm“. Zahlreiche Geschäfte würden heute in Ost-Berlin nicht öffnen. Außerdem war gestern letzter Schultag in der DDR.

Ullrich Gärtner (48), Hauptbereichsleiter in einer Dresdener Brauerei, ist bereits gestern mit seiner Familie in den Schulferien und „nur auf der Durchreise“. Die Familie will sich zwei Wochen in Mecklenburg von Arbeit und Ungewißheit erholen. Im Urlaubsort hatte Gärtner vor Urlaubsbeginn angerufen und sich nach Lebensmittelpreisen erkundigt. Darauf hat er sich lieber in die lange Schlange eines Low-price-Aldis in West-Berlin eingereiht. 100 Mark haben er und seine Frau ausgegeben.

Daß die 12.000 Westberliner Einzelhändler unter anderem ihre Hi-Fi-Sortimente „besonders in niedrigen Preiskategorien“ für dieses Wochenende aufgestockt haben sollen, wie eine Sprecherin des Gesamtverbandes Einzelhandel behauptet, stimmt zumindest nicht für Schaulandt in Steglitz. „DDR-Kunden wollen überwiegend Qualität“, hat Geschäftsführer Jörg Hespeler festgestellt, „und fast nur deutsche Geräte, obwohl es die kaum noch gibt.“ Und wenn, stecken hinter deutschem Namen sowieso japanische Mikrochips in koreanischen Platinen. In Hespelers Laden herrschte gestern zwischen Fön und flimmernden Fernsehbildern Friedhofsruhe. Dennoch: Seit der Währungsunion ist hier der Umsatz um 25 Prozent gestiegen. Großer Renner: Videorecorder und Farbfernseher. Heute ist die Filliale mit 20 VerkäuferInnen „voll besetzt“.

Auch Vater Beck will sich als nächstes einen Videorecorder und ein TV-Gerät gönnen. Im Centrum-Kaufhaus zu Hause in Mecklenburg sollen die Statussymbole 200 bis 300 Mark teurer sein als hier, berichtet er. Vor der Arbeitslosigkeit habe er keine Bange, denn bis November wird geerntet, und ein bundesdeutscher Unternehmer will in seine LPG einsteigen da könne er sich die teure Anschaffung beruhigt leisten.

Dirk Wildt

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