„Schlimmer als eine Ehe“

■ Die rot-grüne Koalition streitet: SPD und AL im Verhandlungsmarathon über ein 56-Punkte-Programm / Stimmung ist auf dem Nullpunkt

West-Berlin. Ein Gespenst geht um in West-Berlin, und das heißt „Koalitionskrise“. Die Fraktionen der beiden Regierungsparteien sind mittlerweile in einen Verhandlungsmarathon eingetreten, der seinesgleichen sucht. SPD und AL verhandeln jetzt über ein 56-Punkte-Programm, das bis zu den Neuwahlen im Dezember abgewickelt werden soll. Darauf stehen sowohl unstrittige Detailfragen wie auch die großen Streitpunkte Daimler-Benz-Ansiedlung auf dem Potsdamer Platz, die Genehmigung für den Forschungsreaktor am Hahn-Meitner-Institut sowie die Bewerbung Berlins für die Olympiade. Gibt es im Verlauf der nächsten Woche keine Einigung, dann ist die Koalition als gescheitert zu betrachten.

Die Erschöpfung aus den Mammutsitzungen steht den einzelnen deutlich ins Gesicht geschrieben, und die Stimmung im Schöneberger Rathaus ist auf dem Nullpunkt angelangt. Niemand mag am Ende eines Tages noch darauf wetten, daß es die Koalition am nächsten Tag noch gibt. „Es wird hart gerungen“, umschreibt SPD-Pressesprecher Stadtmüller die Lage. „Bis zur völligen Erschöpfung“ verbringen die Fraktionäre nach eigenem Bekunden ihre Zeit in Verhandlungsrunden. Tränen sind auf den Krisensitzungen keine Ausnahme mehr - nicht nur bei den Frauen. „Darf ich Ihnen meine Ehefrau vorstellen“, begrüßte SPD-Fraktionschef Ditmar Staffelt auf dem SPD-Parteitag einige Journalisten; vorgestellt wurde dann jedoch der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD, Horst-Achim Kern. „Wir verbringen täglich 18 Stunden miteinander, das ist schlimmer als eine Ehe“, so Staffelt. Hektische Flecken beim „Ehepartner“ Kern, wachsbleich die AL-Fraktionsvorsitzende Renate Künast. „Ich bin körperlich am Ende“ ist dieser Tage einer der am häufigsten vernommenen Sätze im Schöneberger Rathaus. Eine Ausnahme gibt es: Anscheinend unbeeindruckt von den Stürmen um ihn herum läuft AL-Oberrealo Bernd Köppl durch die Gänge, obwohl er als Fraktionsvorstandsmitglied an allen Verhandlungen beteiligt ist.

Gestern tagten vormittags erneut die beiden Fraktionsvorstände - ohne Ergebnis. Am Nachmittag zog sich dann wieder die AL hinter verschlossene Türen zurück und ließ die Sitzung nahtlos in die Mitgliedervollversammlung am Abend übergehen. Der Marathon soll nächste Woche weitergehen, am Montag in den Fraktionen, am Dienstag im Senat, am Donnerstag im SPD-Landesvorstand - es sei denn, eine der beiden Beteiligten beschließt vorher den Ausstieg.

Kordula Doerfler