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Die Stadt ohne Menschen

■ Der verkaufsoffene Sonnabend in West-Berlin fegte die Provinz leer / Das Warenangebot in Ludwigsfelde, der „Stadt der Automobilbauer“ ist teuer und bescheiden / Die eigentlich Angeschmierten der Währungsunion sind die Frauen

Von Anita Kugler

Gegen Mittag ist Ludwigsfelde eine Stadt ohne Menschen. Die rund 25.000 Einwohner haben sich, dem Anschein nach, geschlossen Richtung West-Berlin aufgemacht. Es ist ein Katzensprung, nicht mehr als 20 Kilometer. Der Weg über die Dörfer ist holprig, aber die Mühe lohnt sich. Im westlichen Berlin wird der erste verkaufsoffene Sonnabend nach der Geldunion gefeiert. Die Stadt ist brechend voll, in die U -Bahnzüge paßt keine Maus mehr hinein. Der Innenstadtverkehr bricht mehrmals am Tage völlig zusammen. Vor den Billigmärkten staut sich das Volk, schon bevor die Läden überhaupt aufmachen. In ganz West-Berlin klingeln die Kassen wie sonst nur vor Weihnachten. Unterhaltungselektronik, heimwerkerbedarf, Kosmetikas, alles wird gekauft. Viele Lebensmittel sind schon morgens um 11 Uhr vergriffen. Ein miserabler Tag für Langschläfer, ein glänzender Tag für die Geschäftsleute der Stadt.

In Ludwigsfelde hingegen gähnende leere. Die vier Kaufhallen der HO, der Konsum, die Verkaufsstelen, Dienstleistungsbetriebe und Industrieläden haben wie jeden Sonnabend in der alten DDR-Provinz, ab 10 Uhr die Pforten geschlossen. Mit den westlichen Waren sind noch lange nicht die westlichen Ladenschlußzeiten ins Land gezogen. Aber auch bis zu diesem Zeitpunkt sind die Kaufhallen menschenleer. Gekauft wird nur das Allernötigste, der Frühstücksbedarf, mehr nicht. „Es lohnt sich nicht“, sagt Elvira Sommer, 28, alleinstehend, mit zwei Kindern an der Hand, „die Auswahl ist schlecht, dafür sind die Preise hoch.“

Und in der Tat, billig ist die Kaufhalle in der Innenstadt nicht. Es fehlen die Sonderangebote, die Lockpreise die typisch sind für eine florierende Konkurrenzwirtschaft. Das Brot kostet 2,50, die Büchse Coca Cola 97 Pfennig und die Obstsäfte fast 2 Mark. Das Preisniveau entspricht den Kiezläden in der Westberliner Innenstadt, liegt aber rund ein Drittel über den Verkaufspreisen der Billiganbieter. Das Warenangebot ist ausreichend, aber bescheiden, es gibt keine 10 Sorten Nudeln, sondern nur zwei, am üppigsten ist das Alkoholregal bestückt. Pfälzler Wein für 3,99. DDR-Produkte gibt es wenig, die Tomaten aus dem Werderland sind verdrängt durch die EG-Früchte aus Holland. „Wir müssen das nehmen, was der Großhandel uns liefert“, klagt der Verkaufsstellenleiter und er äußert den Verdacht, daß der Großhandel die Berliner Warenhäuser bevorzugt beliefert, die Provinz vernachläßigt. Vergangenen Donnerstag hat er Frischprodukte nachbestellt, Milch, Käse, Fleisch. Die Waren sind so gut wie unverkäuflich, die in Flaschen abgefüllte Milch flockig, die DDR-Butter aus dem Potsdamer Milchhof mit 2,87 DM teuerer als je zuvor. Auf die Preisgestaltung hat der Verkaufsstellenleiter nicht den geringsten Einfluß, der Fleischaufschnitt „kommt schon mit Preisschildchen an“. Herr M. ist höchst ärgerlich, so hat er sich die Marktwirtschaft nicht vorgestellt, und weil in der Kleinstadt jeder jeden kennt, ist er dem geballten Ärger der Kunden direkt ausgesetzt. „Neulich hat jemand die Luft aus dem Reifen meines Wartburgs gelassen“, erzählt er resigniert, „nur weil bei Penny die Ananas größer ist.“

Die Klagen beeindrucken Elvira Sommer nicht. Die Probleme des hapernden Warenkreislaufs interessieren sie nicht. Es ist ihr auch gleichgültig, daß die DDR-Produkte bald nicht mehr konkurrenzfähig sind und die Umsatzsteuer in westdeutsche Kassen fließt. „Woher soll denn meine Solidarität kommen, ich habe nichts zu verschenken.“ Auf den Tag der D-Mark hat sie hingespart, mit dem West-Geld im Portemonnaie kommt ihr die Stadt noch grauer vor als sonst. „Es ist alles so langweilig hier.“ Sie wird gleich den Trabbi nehmen und sich mit den Kindern ins Westberliner Gewühl stürzen. Ab Montag wird das Geld wieder zusammengehalten, der Großeinkauf in Marienfelde muß für eine Woche reichen.

Elvira Sommer hat Angst vor der Zukunft. Wie fast die Hälfte aller Ludwigsfelder arbeitet sie beim größten Arbeitgeber der Stadt, beim IFA-Nutzkraftwagenwerk. Vergangene Woche hat sie sich an einem Warnstreik beteiligt, die IG-Metall demonstrierte für einen Teuerungsausgleich, kürzere Arbeitszeiten und eine zweijährige Beschäftigungsgarantie. Auf eine Umschulungszeit ist sie angewiesen, denn bald kommt Daimler in die Stadt und ob sie dann noch als Ökonomin gebraucht wird, ist sehr fraglich. „Ich bin ganz zerissen“, bringt sie die Sorgen auf den Punkt. Die Währungsunion „habe ich gewählt und herbeigesehnt“, aber mit den 900 Mark Monatslohn steht sie, wenn die Preise weiter steigen „an der Wand“. Früher hat sie Butter gegessen, jetzt schmiert sie den Kindern Margarine auf das Brot. Die eigentlich „Angeschmierten“ erkennte sie bitter, „sind die alleinstehenden Frauen“. Wenn die Preise in Ludwigsfelde weiter klettern, dann „muß ich meinen Ex -Mann um mehr Unterhalt anbetteln“. Das hat „der Kerl nicht verdient“, und um diesen Canossa-Gang hinauszuzögern, „renne ich, solange es drüben billiger ist, zu Aldi“.

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