: In der Masse nur noch Deutscher
■ Das unterschiedliche Verhalten von Einzel- und Gruppen-Germanen / Der allerletzte Nachtrag zur WM
Aus Rom Werner Raith
„Weißt, was mir des wär?“ fragt der Weber Franz aus Landau an der Isar. „Wurscht wär mir des, wenn die verliern tät'n. Was müssn wir immer g'winnen? Mir sind die Argentinier genauso sympathisch wie die unseren.“ Zehn Minuten später freilich steht der Weber Franz zusammen mit gut vierzig anderen Zuschauern vor einem der unzähligen Fernsehschirme auf dem Flughafen und kann sich nicht genug aufregen, wenn „die unseren“ vor dem Tor der Maradona-Kompagnons auftauchen, verdreht seinen Hintern und seine Knöchel gerade so, als müsse nicht Matthäus oder Brehme, sondern er selbst den Ball ins Tor schubsen. Er bemerkt mich, macht eine Geste, kommt dann zu mir: „Weiß schon, was du denkst. Aber das ist jetzt ganz was anderes: vorher, da haben wir zwei allein miteinander geredet, sozusagen von Mensch zu Mensch. Aber wenn man so drin is‘ in der Masse, da ist man halt dann bloß noch Deutscher.“
Da muß was dran sein. Den umgekehrten, aber analogen Effekt zeigt Herr Mösta aus Altona: „Zum Kotzen“ findet er all die Brüller ringsum, nachdem er sich, sein Flug ist letzmals aufgerufen worden, aus dem Pulk entfernt hat, „einfach widerlich.“ Doch hat er nicht gerade selbst besonders stark mitgeschrien? „Das müssen Sie verstehn“, sagt er eilenden Schritts und mit einer Routine, als sei das selbstverständlichster Alltag, „das ist wie mit dem Berliner Mauerfall: wenn man die Besoffenen auf dem Ding da herumhüpfen sieht, möchte man det Fernsehgerät zertrümmern. Aber wenn man dort ist, macht man automatisch mit und es ist ein tolles Gefühl.“
Der Automatismus läßt sich besonders im Ausland beobachten
-und von Ausländern. „Ich weiß gar nicht, was ihr gegen die Deutschen habt“, murrte ein Leserbriefschreiber an 'L'Espresso‘ nach dem Beginn der Vereinigungsroute, „ich kenne als Vermieter von Surfbrettern wahrlich viele Deutsche, habe zahlreiche Freunde unter ihnen und bin nicht einem von diesen 'häßlichen Deutschen‘, wie Italiens Presse sie schildert, begegnet.“ Sechs Wochen später schrieb er noch einmal: „Ich war jetzt dort, bei einigen meiner Freunde. Ich habe sie nicht wiedererkannt, speziell wenn sie abends in der Wirtschaft zusammensaßen...“
Deutsche zwischen „Menschsein“ und „Masse“: Wahrscheinlich ändert die Luftveränderung, vor allem aber die Unsicherheit im fremden Land das Verhalten insgesamt, und sicher nicht nur bei den Deutschen. Doch möglicherweise ist gerade bei ihnen die Differenz besonders deutlich zu spüren. „Man sitzt gemütlich beim Wein zusammen“, sagt Flavio in der Brummi -Trattoria „Quasimagna“, „diskutiert über alle Weltprobleme, die Politik, den Fußball und lernt den Deutschen Fernfahrer oder Urlauber, ganz gleich - als einen offenen, nachdenklichen Menschen kennen, der im Grunde so ziemlich dieselben Ansichten hat wie unsereins. Dann geht die Tür auf, zwei seiner Landsleute kommen herein - und schon erklären sie einem die Welt völlig anders, und vor allem, sie lassen dir plötzlich nicht mehr ein Fitzelchen von deiner Einstellung, sind nur glücklich, wenn du am Ende sagst, ihr habt ja recht.“
Der Politologe Silvio Zaccai sieht darin „eine Tendenz gerade von Menschen aus Ländern mit besonders gut geregelten Alltagsstrukturen, sich im Ausland zunächst einmal verlassen zu fühlen und deshalb beflissen nach Unterwürfigkeitsmodellen zu handeln, d.h. sich den dort herrschenden oder vermuteten Meinungen anzuschließen, oder sich gar anzubiedern - um dann sofort ins Gegenteil zu verfallen, sobald sie sich durch die Präsenz 'ihrer‘ Gruppe stark genug fühlen, ihre Meinung zu vertreten.“ Wobei das dann gar nicht einmal ihre eigene Meinung sein muß, sondern oft genug die Gruppenmeinung, die sie von zu Hause mit herübertransportieren und von der sie sich nun auch nicht mehr lösen können.
Die Hartnäckigkeit, mit der Gruppen Deutscher - speziell natürlich wenn angetrunken - dann zum „Meinungs-Panzer“ werden, steht nach den Beobachtungen des wegen seiner Vielsprachigkeit in ganz Italien eingesetzten, ausgesprochen germanophilen Inspektors Zaccharelli von der „Polizia statale“ oft „in direktem Verhältnis zu der Zeit und der Intensität, die sie vorher ihre Ansichten verstecken zu müssen glaubten.“ Und im wiedergewonnenen Überlegenheitsgefühl geht die Ratio dann oft verloren - „sie vertreten dann oft Meinungen, für die weder sie noch ihre Gruppe irgendwelche vernünftigen Argumente beibringen können“.
Diese offenbare Differenz von Gruppen- und Individualverhalten, sicherlich in allen Völkern und Ländern vorhanden, zählt in den Augen vieler Fremder offenbar zu den ganz speziellen Zügen der Deutschen, und so gelten die Germanen oft als die unberechenbarsten aller Zeitgenossen trotz all der berühmten Eigenschaften wie Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit, Präzision: „Alles nette Kerle, jeder davon mit nach Hause einzuladen“, sagt Inspektor Zaccharelli, „aber wehe, wenn sie einen Pulk finden, in dem sich die Ansichten ohne Steuerungsmöglichkeit aufbauen.“
Das zeigt auch Herr Mösta aus Altona. Nach einem philosophischen Satz, daß man „das Hirn eben erst wieder einschaltet, wenn man aus der Gruppe raus ist“, und sich freundlich und ruhig verabschiedet hat, schließt er sich einigen Bekannten aus Hamburg an, von denen einer einen Handfernseher mitführt. Noch vier Flugsteige weiter hört man ihn nach dem Protesten der Argentinier gegen den Elfmeter schreien, und die Forderung, dem Maradona mal „das Fell richtig zu gerben“, ist dabei noch die bescheidenste.
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