: Was kommt nach der KPdSU?
■ „Wenn der große Berg ins Rutschen kommt, dann reißt er alles mit!“ / Die Kommunistische Partei zerfällt und hundert neue Blumen blühen
Aus Moskau Barbara Kerneck
„Die UdSSR auf dem Weg zum Mehrparteiensystem“, so lauteten die Überschriften westlicher Zeitungen vor zehn Tagen. Als die führenden Persönlichkeiten der „Demokratischen Plattform“ aus der KPdSU austraten, um eine neue „Partei“ zu gründen, bemerkte die Weltöffentlichkeit plötzlich, daß sich im Sowjetimperium bereits Hunderte der so bezeichneten politischen Organisationen gebildet haben. „National oder gar fundamentalistisch?“, „Für die Freiheit der zukünftigen Kapitalisten oder mehr für die soziale Sicherung ihrer Angestellten?“ „Für Graswurzeldemokratie oder Väterchen Zar?“ - „Oder alles beides?“ - zwischen diesen Polen bewegt sich das Spektrum der Sowjetparteien heute, und allen stellt sich die Frage: „Wie hältst du's mit der Religion?“ Dabei ändern sich die Konstellationen von Tag zu Tag. Hader, persönlicher Ehrgeiz und Spaltungen vergiften den neuen Vielparteienalltag, und der KGB ist allenthalben heimliches und unheimliches Mitglied. Der Zerfall der KPdSU schickt ehemalige Kommunisten auf die Suche nach einem „modernen Zuhause“. Dies alles wird zumindest die Parteien mit parlamentarischem Anspruch noch einmal gründlich durcheinanderrütteln. Heute zitieren auch die Russen das estnische Sprichwort: „Wenn ein großer Berg ins Rutschen kommt, dann reißt er alles mit.“
Wenn der Berg kreißt, tanzen die Mäuse
Die Russische Föderative Sowjetrepublik (RSFR) bedeckt über die Hälfte der heutigen Sowjetstaatsfläche, doch der Parteien sind hier erst ein paar Dutzend - den genauen Überblick hat niemand mehr. Und auch wenn sie noch nicht als eingetragene Vereine anerkannt sind oder an Wahlen teilnehmen dürfen - wie in den baltischen Republiken oder Georgien -, vorrangig werden diese russischen Parteien das künftige Schicksal des gesamten Unionsstaates oder eher der „Staatenunion“ entscheiden - sobald die Sowjetverfassung diese Möglichkeit eröffnet. Möglich wurden solche politischen Organisationen erst im Frühjahr durch den Sieg liberaler Bündnisse von Individuen, wie des „Blocks demokratischer Kandidaten Rußlands“, bei den Kommunalwahlen in den russischen Großstädten. Danach verzog sich die demokratische Bewegung von den Straßen in die Säle und wärmte sich am Gründungsfieber. Die neugewählten Stadtväter öffneten den Parteieninitiativen die Türen - von innen nie gesehener - Gebäude zur Zukunft. Die „Informellen Bewegungen“ wurden plötzlich „formell“ und auch Altdissidenten empfanden es als keine Schande mehr, die Macht im Staate anzustreben. Allerorts nahmen offizielle Garderobenfrauen höchst inoffizielle Mäntel ab, und die Babuschkas in den Kantinen klagten über ortsfremden Andrang.
Praktisch im Rathaus des Moskauer Oktjabr-Bezirks, nämlich in der Residenz des Exekutivkommitees, konstituierten sich gleich zwei Parteien kurz hintereinander: am ersten Maiwochenende die „Sozialdemokratische Partei der russischen Föderation“ (SDPRF), am letzten die Demokratische Partei Rußlands (DPR). Die SDPRF-Gründung hatten einige der brillantesten Moskauer Intellektuellen, wie der Politologe Oleg Rumjanzew und der Soziologe Pawel Kudjukin, von langer Hand vorbereitet. Seit einem Jahr schon besteht die „Sozialdemokratische Assoziation“ (SDA), eine Art Miniinternationale aller sozialdemokratischen Bewegungen im sowjetischen Maßstab. Historisch berühmt sind die sozialdemokratischen Parteien der baltischen Republiken und Georgiens, die letztere bildete hoch im Kaukasus, in den zwanziger Jahren, die erste sozialdemokratische Regierung der Welt. Von allen auf dieser Seite erwähnten politischen Gruppierungen ist die „SDPRF“ am solidesten in der Provinz verankert: keine russische Kreisstadt ohne sozialdemokratische Gruppe! Einer Umfrage des Moskauer Wissenschaftszentrums „Soz Eks I“ vom Mai zufolge, sind 30 Prozent aller Moskauer für die Sozis. Das heißt nicht unbedingt, daß sie sie wählen würden, sondern daß es ihrer Meinung nach eine solche Partei in Rußland geben sollte. Wie alle russischen Demokraten mit Anspruch auf Vertretung in einem künftigen Obersten Sowjet, neigen auch die Anhänger dieser Partei dazu, den westlichen Parlamentarismus maßlos zu verklären. Sie sind felsenfest davon überzeugt, daß in einem solchen System immer die „Besten und Ehrlichesten“ an die Macht kommen. Da sie sich ausnahmslos selbst zu diesen zählen, schielen sie anspruchsvoll auf die Hilfe der westlichen Bruder- und Schwesterparteien. Eine Blickrichtung, die sich, zumindest im Falle der russischen Sozialdemokraten, noch nicht allzusehr rentiert hat.
„Personality-Power“ ist „in“...
Die „Demokratische Partei Rußlands“ (DPR) wird nur als die „Partei von Trawkin und Kasparow“ gehandelt: ihr populistischer Charakter ist offensichtlich. In der Moskauer Gesellschaft gilt sie als Partei, mit der man künftig Karriere machen kann. Den Vorsitz führt der charismatische, hagere Deputierte des Obersten Sowjet, Nikolaj Trawkin - und zwar allein! Letzteres veranlaßte gleich bei der Gründung die Leningrader Delegation, sich unter Protest abzuspalten, weil sie ein Führungsorgan aus mehreren Co-Vorsitzenden bevorzugt hätte. Den Reststamm hält bisher Schachweltmeister Gary Kasparow wie ein gewitzter Schäferhund zusammen - und das Geld gibt er auch. Im Unterschied zu den Sozialdemokraten vertritt die „DPR“ die These, daß unternehmerische Initiative die Vorfahrt vor sozialer Sicherheit haben müsse - zumindest in Rußland, solange die Marktwirtschaft initialisiert wird - weil das Unternehmertum erst einmal die Mittel für Sozialleistungen schaffen müsse. Am konsequentesten von allen Demokraten definierten sich die Trawkinianer von Anfang an als Anti-KPdSU-Partei. Als Bauingenieur steht Trawkin der Arbeiterschaft nahe und ist gern gesehener Gast bei den Streikkomitees in der Ukraine und im Kusbass-Becken.
Auch die „Demokratische Union“ (DS) soll es nach Meinung von einem Drittel der Moskauer unbedingt geben, obwohl die meisten von ihnen sie mit Augenzwinkern als „Verein, um möglichst schnell hinter Gitter zu kommen“, bezeichnen. Die „Demokratische Union“ nennt sich schon seit Anfang 1989 offiziell „Partei“ und hat seit Jahren den Anspruch, eine zu sein. Ihre Sporen hat sie noch zu den Zeiten verdient, als Dissidenten mit allen Mitteln bekämpft wurden. Die beiden heute rennomiertesten Samsisdat-Zeitschriften 'Glasnost‘ und 'Express-Chronika‘ sind zwar unabhängig von ihr, aber mit ihrer Geschichte eng verbunden. Die Galionsfigur des Vereins, Natalija Nowodworskaja, ein Miss-Marple-Typ mit Vorliebe für Großgepunktetes oder Geblümtes, predigt den „passiven Widerstand“. Auch weiterhin lebt sie ihn vor, indem sie sich mit oder ohne Handschellen abschleppen läßt. Da der humorvolle, liberale neue Moskauer Oberbürgermeister Gawrijl Popow nicht daran denken würde, Demokratische-Union -Demos zu verbieten, verzichtet diese Partei jetzt in Moskau auf eigene Kundgebungen. Nowodworskaja: „Das wäre Zusammenarbeit mit einem blutrünstigen Terrorregime“.
...und „small
is beautiful“
Neben den drei genannten Gruppierungen zählen zum „säkulären Lager“ auch noch verschiedene liberale Parteien und die Anarchosyndikalisten. Böse Zungen, ebenso wie wohlwollende, behaupten, die „Konstitutionellen Demokraten“ (KD), seien eine „Partei auf Familienbasis“, die sich fast nur aus den Verwandten des jungen Begründers, Wiktor Solotarjew, zusammensetze, sowie den immerhin zahlreichen Anbetern seiner schönen Schwester Anja. Die heutigen KaDetten genießen in Moskau einen guten Ruf. Sie gehören zum traditionellen Kern des großen hauptstädtischen Debattierklubs „Moskowskaja Tribuna“, der ebenso alt ist wie die „Glasnost-Politik“, aber wesentlich konsequenter. Anknüpfen möchte dieses Grüppchen an das politische Erbe der berühmt-berüchtigten Liberalenpartei der Revolutionszeit mit dem gleichen Spitznamen: KaDetten - und natürlich auch an deren mumifiziertes Auslandsvermögen.
Und wie hältst du's
mit der Religion?
Auch die viel zahlreicheren russischen „Grünen“ werden in Zukunft zu den säkulären Parteien zählen, aber naturgemäß können sie sich jetzt noch nicht darauf einigen, ob sie lieber parlamentarisch oder außerparlamentarisch operieren wollen. Immerhin gab es schon zwei „RSFSR„-Treffen zur Diskussion über die Parteigründung, und diese scheint fast unvermeidlich angesichts der großen Empfänglichkeit der „russischen Seele“ für grünes Gedankengut und der gewaltigen Umweltschäden, die der „russische Körper“ zu verkraften hat. Eng verquickt mit den Grünen - aber auch mit der Arbeiter und Streikkomiteebewegung - ist die „Konföderation der Anarchosyndikalisten“ (KAS), die zur Zeit in Moskau immerhin 500 Aktivisten und im Lande 2.000 Anhänger hat. Praktisch eine Partei bezeichnet sie sich dennoch nicht als solche, um für ihre Mitglieder das Wirken in anderen Parteien nicht auszuschließen. Die „KAS“ konzentriert sich ganz auf die Suche nach einem „Dritten Weg“ zwischen sämtlichen Kapitalismen und Sozialismen, um der kolonialen Ausbeutung Rußlands in Zukunft entgegenzuwirken. Kleine Produktionseinheiten - möglichst dezentralisiert - sind bei den Anarchisten in. Ihre Theorien erprobt sie unter anderem in dem USA-UdSSR-Joint-venture „Pacific Investment Union Cooperation“ - dem bisher ersten, in dem die Russen die Führung innehaben.
Während bei allen bisher genannten politischen Gruppen jeder nach seiner Fasson seelig werden kann, gibt es in Rußland mindestens schon fünf Parteien, bei denen Religiosität verlangt wird. Im Prinzip zählen sich hierzu die neuen großrussisch-chauvinistischen Rechtsparteien (siehe Interview). Zu den „prowestlichen Elementen“ gehören trotz ausdrücklicher Anbindung an die russische Orthodoxie die beiden „C„-Parteien. Als erste entstand die „Christlich -Demokratische Union“ (ChDS) um Alexander Ogorodnikow, einen Alt-Dissidenten mit stolzen achteinhalb Jahren Haft. Mehr Zulauf hat heute dennoch die eher slawjanophile „Christlich -Demokratische-Bewegung“ (ChDD) um den erfolgreichen Samisdat-Redakteur Viktor Aksjutschitz und den gestählten Dissidenten-Pater Gleb Jakunin. Die beiden Männer unterhalten solide Beziehungen zu USA-Kreisen und hoffen ernstlich auf eine Modernisierung der russisch-orthodoxen Kirche.
Viel „orthodoxer“ gibt sich der „Rechtgläubige monarchistische Ordensbund“, (PRAMOS) mit „Marschall“ Sergej Jurkow-Engelhard an der Spitze. Sein Gründungsparteitag am 19. Mai 1990 glich einem Kostümfest: Damen in Spitzenroben und Herren in den traditionellen Uniformen der zaristischen Regimenter. Der Vorsitzende will dabei zuerst die Mehrheit im Obersten Sowjt erobern und dann eine „Versammlung der Landstände“ zur Zarenwahl einberufen. Favorit der Partei ist zur Zeit der Nachfahre des vorvorvorletzten russischen Zaren Aklexander II, Großherzog Wladimir Kirillowitsch. Der betrachtet die ganze Sache ironisch, möchte aber auch nicht vorzeitig die Trümpfe aus der Hand geben.
„Orden“ wider den tierischen Ernst
Gottseidank nehmen sich nicht alle neuen Parteien tierisch ernst. So fordert die „Radikale Assoziation für Frieden und Freiheit“ (RAMS) die Freiheit für Zootiere, Drogen für alle und das Recht für Kinder, ihre Eltern zu verklagen. Moskauer Gruppen, die sich als Filialen des italienischen „Partito Radicale“ betrachten. Nicht die Eroberung der Macht ist Ziel der „RAMS“, sondern möglichst aufsehenerregende Happenings. Den „Gründungsparteitag“ am 16. Juni dominierten schrill gestylte Twens. Gesammelte Lumpen flogen durch die Luft, und als die ununterbrochen spielende Band auch den letzten Gast hinausgeekelt hatte, wurde die Vorsitzende, Jewgenija Debrjanskaja, gefragt, ob sie mit dem Kongreß zufrieden sei. „Sehr“, antwortete Jewgenija, und auf die Frage, ob der nächste Parteitag genauso interessant würde: „Noch viel interessanter!“
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