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Vom Paulus zum Saulus

■ betr.: "Gesundheit: Handeln statt palavern" (Ärztekammerpräsident Ellis Huber antwortet auf offenen Brief der AL), taz vom 18.7.90

LESERiNNENBRIEFE

Betr.: „Gesundheit: Handeln statt palavern“ (Ärztekammerpräsident Ellis Huber antwortet auf offenen Brief der AL), taz vom 18.7.90

Der Senat plant eine Landesgesundheitskonferenz, die in wichtigen gesundheitspolitischen Fragen Rat geben soll. Schaut man genauer hin, entdeckt man, daß es sich eher um eine Landeskrankheitskonferenz handelt. Denn neben Senat und Magistrat sind die Krankenkassen, die Ärztekammer, die Kassenärztliche Vereinigung, die Krankenhausgesellschaft und die Wohlfahrtsverbände Mitglieder der Konferenz. Von Gesundheit kaum eine Spur. Aber auch von Gruppierungen, die in den letzten Jahren Motor von Veränderungen für die Sicherung unserer Gesundeit waren (zum Beispiel Gesundheitsladen, Ökodorf, BUND oder Verbraucherzentrale) keine Spur.

Die AL kritisierte in einem offenen Brief an Gesundheitssenatorin Stahmer, daß die Betroffenenorganisationen entgegen der Koalitionsvereinbarung nicht einbezogen werden sollen. Darüber hinaus fordert sie Öffentlichkeit für die Sitzungen der Konferenz und lehnt das Senatsprojekt in der geplanten Form ab.

Nun betritt der Präsident der Ärztekammer die Bühne. In einem offenen Brief wirft er dem Bereich Gesundheit der AL vor, die „populistische Funktionalisierung des Begriffs der Öffentlichkeit kennzeichnet die typische fundamentalistische Flucht aus der Verantwortung“. Es fallen Worte wie „naiv und unbedarft“, „folgenlose Diskussionen“, „strukturelle Verantwortungslosigkeit willkürlicher Versammlungen“, „fruchtloses Gerede“. Dagegen hält er: „Gesundheitspolitisches Handeln für eine Millionenstadt setzt Verantwortlichkeit und fachliche Kompetenz ebenso voraus wie politische Entscheidungsfähigkeit und Legitimation.“

Wie von einem Ärztekammerpräsidenten zu erwarten, stellt er sich bruchlos hinter das Konzept der Landesgesundheitskonferenz des Senats. Dies wäre auch nicht verwunderlich. Doch der Präsident ist Ellis Huber, der mit der Bewegung der Betroffenen und dem Ruf nach öffentlicher Debatte über die Gesundheitspolitik groß geworden ist. Noch vor Jahren hatte er sich an der Organisierung des Gesundheitstages beteiligt und war Gesundheitsstadtrat für die AL. Damals forderte er: „Die Beteiligung der Menschen an der Planung, Gestaltung und Durchführung ihres Gesundheitswesens, also gemeinschaftliche Gesundheitssicherung, heißt das politische Ziel.“ Vollmundig kritisierte er professionelle Überheblichkeit.

Ellis Huber schmückt sich heute noch gerne mit seiner alternativen Vergangenheit und „fühlt sich der Gesundheitsbewegung verbunden“, wenn es gilt, ein Vorwort für Kongreßdokumentationen zu schreiben. Doch hat er sich jetzt mit seinem senatstragenden Brief von der eigenen Vergangenheit endgültig verabschiedet. Sein Plädoyer für die Medizinlobbyisten als ordentliche Mitglieder der Landesgesundheitskonferenz und Aussperrung der Öffentlichkeit ist das Ergebnis einer Verwandlung vom Paulus zum Saulus: einst gesundheitsbewegtes Mitglied des Gesundheitsladens und jetzt Technokrat einer Landesgesundheitskonferenz.

Johannes Spatz, Mitglied des Bereichs Gesundheit der A

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