: Alternativer Imperialismus oder friedliche Koexistenz?
■ Reizwort Gesamtberliner Wahlen: Zum Stand der Bündnisverhandlungen zwischen der AL und den Bürgerbewegungen in Ost-Berlin
Berlin. Der Streit um die Modalitäten der ersten gesamtdeutschen Wahlen geht auch an Berlin nicht spurlos vorüber: Die Einzelheiten zur Bundestagswahl werden im Bundeswahlgesetz geregelt, jene zu den ersten Gesamtberliner Wahlen zum Abgeordnetenhaus im Landeswahlgesetz, das in Einzelheiten auch abweichen darf. Die „großen“ Fragen des Wahlgebietes und der Sperrklausel wurden in einem ersten Entwurf der Senatsverwaltung für Inneres geprüft: In diesem Entwurf ist für Berlin ein einheitliches Wahlgebiet mit einer einheitlichen Fünfprozentklausel vorgesehen. Dies entspricht im wesentlichen den Vorstellungen der regierenden SPD, nicht aber denen des kleineren Koalitionspartners, der Alternativen Liste, und seiner möglichen Bündnispartner im Ostteil der Stadt.
Die AL wie die Bürgerbewegungen in Ost-Berlin sähen es am liebsten, wenn auch in Berlin in zwei getrennten Wahlgebieten mit einer niedrigeren oder gar keiner Sperrklausel gewählt würde, konnten sich aber auch nicht länger vor der Einsicht verschließen, daß das vollkommen unrealistisch ist. Die schwierigen Bündnisverhandlungen für die Wahlen zum Gesamtberliner Parlament sind erst spät angelaufen, vorher fanden nur inoffizielle Gespräche zwischen Vertretern einzelner Gruppen statt. Während auf Bundesebene immer noch versucht wird, die DDR -Bürgerbewegungen unter das Dach der Bundes-Grünen zu integrieren, gibt es in Berlin große Vorbehalte gegenüber diesem Modell. Am wenigsten Probleme haben mit dieser Lösung die Grünen aus Ost-Berlin, alle anderen Gruppen fürchten aber, mit einem solchen Schritt ihre Identität zu verlieren und sich unter die parlamentserfahrene AL unterordnen zu müssen. Einigkeit herrscht nur insofern, als nach der Wahl eine gemeinsame Fraktion gebildet werden soll.
Grundsätzlich sind für die Wahlen drei Modelle denkbar, die in beiden Stadthälften vordiskutiert wurden: Organisatorisch am einfachsten wäre eine Listenverbindung, die aus Ostberliner Sicht allerdings schon einen politischen Haken hat: Nach der Westberliner Verfassung dürfen nur Parteien eine Listenverbindung eingehen, keine Gruppen. Das bedeutete entweder eine Verfassungsänderung oder für die Ostberliner, sich von ihrem Selbstverständnis als Bürgerbewgung zu verabschieden, und das wollen die meisten auf keinen Fall. Als zweite Möglichkeit könnten Ost und West unter einem gemeinsamen Dach antreten, das Dach kann jedoch nur von einer nach dem Wahlgesetz zugelassenen Partei, also wieder der AL, gebildet werden. Auch dagegen gibt es großen Widerstand in Ost-Berlin.
Als dritte Variante ist jetzt ein juristisches Konstrukt namens „Wahlpartei“ im Gespräch, in die nur Personen eintreten, die tatsächlich für die Wahl kandidieren. Konkret heißt das, daß die einzelnen KandidatInnen von AL, dem Neuen Forum oder dem Unabhängigen Frauenverband Doppelmitgliedschaften beantragen müssen und die ganze Konstruktion vom Landeswahlleiter dann auch tatsächlich anerkannt wird. Dieses Modell ist weder juristisch in allen Einzelheiten geprüft, noch macht es den Zusammenschluß leichter, außerdem muß es später wieder aufgelöst werden. Dennoch wird es derzeit von den Verhandlungsführern favorisiert, mit der Begründung, dadurch komme es nicht zu einer „imperialen Ausdehnung“ der AL nach Ost-Berlin, sondern zu einem „gleichberechtigten Nebeneinander“.
Tatsache ist, daß sowohl innerhalb der AL als auch zwischen den sechs Gruppen in Ost-Berlin, die in Frage kommen (Die Grünen, Neues Forum, Demokratie Jetzt, Vereinigte Linke, Initiative Frieden und Menschenrechte, Unabhängiger Frauenverband), höchst unterschiedliche Vorstellungen über das Procedere existieren. Das drängendste Problem ist die Zeit: Die KandidatInnen müssen spätestens 90 Tage vor der Wahl aufgestellt sein, also bis zum 2. September. Bis dahin tummeln sich viele Mitglieder im Urlaub und sind nur schwer erreichbar. Auch dieses organisatorische Problem kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Kern der Schwierigkeiten zwischen Ost und West im Inhaltlichen liegt. Es hat bis jetzt so gut wie kein Klärungsprozeß stattgefunden: Welche Ziele will man in einer gemeinsamen Fraktion verfolgen, und soll später ein gemeinsamer Landesverband gegründet werden? Das Neue Forum in Ost-Berlin will ebenso wie der Unabhängige Frauenverband am „Bewegungscharakter“ festhalten, die Meinungen prallen hier in der Fraktion der Stadtverordnetenversammlung ebenso aufeinander wie in der Verhandlungskommission mit dem Westen. Bärbel Bohley und Ingrid Köppe etwa weigern sich strikt, über eine Umwandlung in eine Partei überhaupt nachzudenken, ihr Fraktionskollege Uwe Lehmann von der Initiative Frieden und Menschenrechte sieht dagegen keine Probleme, unter dem Dach der AL anzutreten. „Die Vereinnahmung findet nicht über den Namen statt, sondern durch praktische Politik“, meint er. Gabriele Zekina vom UFV ist genau gegenteiliger Ansicht und lehnt jedes Ausstrecken der AL nach Osten kategorisch ab. Die Ostler haben ein weiteres großes Problem: Sie befürchten nicht nur einen weiteren Identitätsverlust, sondern werden eklatante Probleme bei der Nominierung der Kandidaten erleben. Die Parlamentsmüdigkeit greift bereits um sich, und viele „Promis“ überlegen sich, ob sie überhaupt noch einmal kandidieren wollen. Der Klärungsprozeß darüber, ob man in den Parlamenten Politik machen will oder lieber außerhalb, hat noch nicht einmal begonnen, geschweige denn die Auseinandersetzung mit der Frage, möglicherweise Regierungspartei neben der SPD zu werden. Die Gruppierungen links der SPD - mit Ausnahme der PDS - stehen damit in Berlin vor dem Dilemma, sich organisatorisch zusammenraufen zu müssen, ehe eine inhaltliche Verständigung über Gemeinsamkeiten überhaupt stattgefunden hat, um ins Parlament zu kommen.
Auch in der Westberliner AL stehen sich zwei Meinungen gegenüber: Der eher realpolitisch orientierte Flügel der Partei hat sich mehrfach für die Gründung eines Daches unter der AL ausgeprochen. Der Neu-Realo im Parteivorstand Volker Härtig befürchtet mit der Wahlpartei die „Vervielfachung der ineffektiven Strukturen“ der Partei. „Wir steuern auf einen Flohzirkus zu, für den wir keine Dompteure haben.“ Die AL, so Härtig, müsse in Ost-Berlin nicht länger übervorsichtig agieren, sondern selbstbewußter ihre Interessen vertreten. Es gehe um einen „Dachausbau“ der AL. Dem steht die Meinung eines anderen Parteivorstandsmitglieds gegenüber; Harald Wolf, einer der Hauptverhandlungsführer mit dem Osten, sieht in der Dachpartei „alternativen Imperialismus“, in der Wahlpartei dagegen „die Chance für den Aufbau von minimalen demokratischen Strukturen“. Die Dachpartei bedeute automatisch, daß sich die AL nach Ost-Berlin ausdehne und dann die Gefahr der Spaltung der Bürgerbewegungen auftrete. Auf der letzten Sitzung des AL-Delegiertenrates wurde über das Thema ebenfalls kontrovers diskutiert. Mehrheitlich angenommen wurde schließlich ein Antrag von Wolf, der den Verhandlungsführern den Auftrag in Rich tung Wahlpartei mit auf den Weg gibt.
Ob die Verhandlungen rechtzeitig zu Ergebnissen führen, ist derzeit völlig offen. Bisher haben nur zwei Treffen stattgefunden, das nächste ist erst für Ende August angesetzt. Sollte man wirklich gemeinsam den Einzug ins Parlament schaffen, ist ein zentraler Punkt dann immer noch ungeklärt, das Abstimmungsverhalten. Während in der Westberliner AL so etwas wie ein Fraktionszwang existiert, stimmen die Ostberliner individuell nach Lust und Laune ab. Das geht selbst den westlichen Befürwortern der Wahlpartei zu weit und bereitet den Realos regelrecht Bauchschmerzen Im Raum steht auch die Koalitionsfrage: Nach der ersten Meinungsumfrage in ganz Berlin (die taz berichtete) ist eine rot-grüne Koalition rechnerisch möglich. Ganz unmöglich ist aber die Vorstellung, daß sich die SPD unter Walter Momper auf wechselndes Abstimmungsverhalten einlassen wird.
Kordula Doerfler
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen