: Obdachlose mit Aids: Täglich wächst die Warteliste
■ In Tempelhof renovieren junge Leute aus aller Welt eine Wohnung für Aidskranke / Eigentlich wäre dies Pflicht des Senats
Tempelhof. Neun Spachtel kratzen mit Höllenlärm über den Putz. Aus dem Radio treibt Madonna die RenoviererInnen an. Der Container vor dem Fenster quillt vor Tapetenschnitzeln über. Eine alltägliche Szene und doch nicht das übliche Tapezier-Happening einer Freundesclique, das hier in einer Zweizimmerwohnung irgendwo in Tempelhof stattfindet. Denn die kleine Reko-Kolonne ist multinational besetzt: USA, Belgien, Finnland, BRD.
Die Frauen und Männer, alle Anfang 20, sind aus einem „work camp“ des Service Civil International und renovieren eine Wohnung, in der zukünftig obdachlose HIV-Positive und Aidskranke leben sollen. Mit der guten Tat zum Nulltarif geht die Gruppe der Kreuzberger Initiative Zuhause Im Kiez (ZiK) zur Hand, die Wohnprojekte für Aidskranke organisiert und unter chronischem Finanzmangel leidet. Bislang fehlt es für den Ankauf von Häusern und Wohnungen, für Pflege und Betreuung an Senatsunterstützung, man ist auf die Zahlungen des ZiK-Gesellschafterkreises angewiesen. Der reicht von der Berliner Aids-Hilfe und HIV e.V. über die Freie Sozialstation Urbanstraße bis zu mehreren Westberliner Drogenberatungsstellen.
Mike, 27jähriger Student aus Eureka in Nord-Kalifornien, ist seit dem 14. Juli hier und bleibt noch eine Woche. Dann kommt die zweite Renovierungsgruppe von Service Civil International, einer vor 70 Jahren in der Schweiz gegründeten pazifistischen Organisation, die mit Jugendlichen in den Ferien soziale Projekte veranstaltet Solidaritätsarbeit in Frauen-, Öko-, Dritte-Welt-Camps, sozialen Projekten, antifaschistischen und -rassistischen Initiativen. Die Welt kennenlernen, als Nicht-TouristIn.
Mike kennt die Situation in San Franzisco und New York und wollte „Berlin sehen und etwas über das ZiK-Programm lernen“. In Deutschland, meint er, sei die Lage längst nicht so dramatisch wie in den USA. Hier seien „das Sozialsystem besser und weniger Leute infiziert“. Jenseits des Atlantiks sei die Aids-Obdachlosigkeit in den Großstädten mit wenigen Ausnahmen dramatisch: „Wenn du in den USA kein Geld hast, dann hast du keine Chance.“
Doch auch bei ZiK in West-Berlin stehen rund 110 HIV -Positive und Aidskranke auf der Warteliste für Einzelwohnungen und „gemischte“ Aids-Wohnprojekte, die eine „Ghettoisierung“ vermeiden sollen. Halb und halb teilt sich die Zahl der BewerberInnen in Ex-Drogengebraucher, Substituierte und Schwule. Sechs Familien mit Kindern sind darunter, 40 aidskranke Obdachlose leben momentan unter unmöglichen Verhältnissen in Pensionen. Die Dunkelziffer schätzt Christian Thomes, ZiK-Sozialarbeiter, noch einmal so hoch: „Wir führen die Liste seit Oktober, und die Zahl steigt ständig an. Täglich melden sich drei, vier Leute bei uns.“ Gründe für die Aids-Obdachlosigkeit: Nach dem Aufenthalt im Krankenhaus sind die Wohnungen weg, auch der finanzielle Abstieg der Kranken mit Rente und Sozialhilfe macht viele wohnungslos. „Doch viele sind so jung, daß sie nicht einmal einen Rentenanspruch haben.“
Die Hilfe durch die „work camps“ des Service International ist laut Thomes eine „Ausnahme“. ZiK fehlt es, obwohl mit Mitteln aus dem Lotto-Fonds sogar ein ganzes Haus gekauft werden konnte, weiter an Geld für Umbau und Renovierung der Wohnungen, die mindestens Zentralheizung und Bad haben sollten und manchmal auch behindertengerecht sein müssen. Daß Senatsmittel bislang nicht im erhofften Maße fließen, findet Thomes schon aus wirtschaftlichen Gründen unverständlich: „ZiK schafft nämlich nicht nur humane Lebensbedingungen, sondern ist auch weitaus kostengünstiger als die Unterbringung in Krankenhäusern oder in Pensionen.“ Für Anträge an ein im nächsten Jahr neu aufgelegtes „Bundesmodell Aids-Wohnprojekte“ brauche man jetzt „dringend Senatsunterstützung“.
kotte
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