: Grün, demokratisch
■ Grüne/Wahlbündnis'90 vor einer großen Chance
KOMMENTAR
In einem unterscheidet sich die Linke auch in diesen Zeiten vom Rest der politischen Landschaft: wenn sie sich entschließt, die Realität wahrzunehmen und um die Macht zu kämpfen, dann ist das immer noch ein bißchen mehr als Machtpolitik oder Taktik. Daß sich am Wochenende die Grünen und die Bürgerrechtsbewegung der DDR zusammengetan haben, ist ein substantieller Schritt, auch wenn die Angst vor dem Untergang und Kohls Drohung mit vorgezogenen Wahlen ihn beschleunigt haben. Jetzt hängt viel davon ab, was alle Beteiligten aus dieser Entscheidung machen. Es wäre schlimm, wenn die vereinigten Verbandsfunktionäre diese Ostberliner Entscheidung benutzen würden, um anschließend einen Streit zu entfesseln, wer der Kapitän der Arche Noah in der gesamtdeutschen Sintflut sein darf.
Der Schritt zur gemeinsamen Wahlpartei ist jedenfalls eine wichtige Voraussetzung, um die Gremienperspektive zu durchbrechen. In ihm steckt der politische Anspruch, die Debatte zu eröffnen über den Widerspruch und den Zusammenhang verschiedener politischer Kulturen. Der Streit über Umweltpolitik und Demokratie und mehr noch der Streit über Hoffnungen der Herbstrevolution und die alternativen Träume der bundesdeutschen Wohlstandgesellschaft kann fruchtbar sein. Eine Wahlpartei, die eine Auseinandersetzung der Ideen in die Vereinigung einbringt, könnte wesentlich mehr Leute interessieren, als gegenwärtig die Addition von Wählerpotentialen vermuten läßt. Der Schritt vom Wochenende läßt hoffen, daß die Wahlpartei eines von der Bürgerrechtsbewegung übernimmt: die Überwindung der traditionellen Links/Rechts-Trennung, die die Nachkriegskultur beherrscht hat. Es wäre ein Rückschritt, die Vereinigung auf ein taktisches Angebot für alle „linken Kräfte“ zu reduzieren. Es geht um den Generationswechsel in der Politik. Grüne Bewegung und Bürgerrechtsbewegung treffen sich an einem wichtigen Punkt: die Probleme der modernen Gesellschaft lassen sich nur durch eine direktere Demokratie behandeln, die mehr Menschen in den politischen Prozeß einbezieht, als es das Parteienmonopol erlaubt. Grün und demokratisch: das wäre eine Politikvorstellung, in der nicht mehr Ideologen über gesellschaftliche Lösungen streiten, sondern in der Bürger sich in dem Bewußtsein engagieren, daß alle Widersprüche mehr Offenheit und Demokratie im Streit verlangen.
Klaus Hartung
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen