: Generationenwechsel
■ Zur deutschlandpolitischen Debatte im Bundestag
KOMMENTAR
Oskar Lafontaine löste Tumulte aus; die Provokation kam von Antje Vollmer - eine derart radikale und intellektuell anspruchsvolle Provokation, daß sie die Männerriege auf der Regierungsbank in feister Ungläubigkeit zurückließ. In Antje Vollmers Rede allein kam die Idee auf, daß die Realität der deutschen Vereinigung mehr ist als Misere, Investitionsprogramme und Kreditliniendebatten. Sie konstatierte, ohne das übliche grüne Lamentieren, daß das vereinte Deutschland eine Weltmacht ist. Zum ersten Mal wurde auf dem Podium der nationalen Öffentlichkeit eine linke Grundsatzposition formuliert, in der nicht mehr vergangene Schlachten geschlagen, sondern der politische Anspruch auf die Zukunft der deutschen Einheit formuliert wurde.
Daß die Welt das Enstehen der mitteleuropäischen Großmacht ohne Angst, aber auch ohne Verzicht auf die historischen Erfahrungen akzeptiert habe, sei nicht nur eine Verpflichtung; es sei auch der Erfolg eines langen Prozesses der Zivilisierung und Humanisierung der deutschen Verhältnisse. Das aber sei die Arbeit von Generationen des Widerspruchs, von den 68ern bis zu den Bürgerrechtlern in der DDR. Die Stunde der deutschen Vereinigung muß die Stunde des politischen Generationenwechsels sein. Denn die herrschende politische Klasse sei der Vereinigung nicht gewachsen, analysierte Antje Vollmer. Und diese Bundestagsdebatte war der schlagende Beweis.
Lafontaine und des Kanzlers Verteidigungsredner brachten nichts anderes zustande, als das Handgemenge um die bessere Konkursverwaltung der DDR. Die ganze Koloratur des sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten war dem Geist der Regierungspolitik näher als dem Geist einer streitbaren Opposition. Für Lafontaine ist die DDR ein nationaler Sozialfall, ein Infrastrukturproblem. Über die sachliche Seite seiner Vorschläge soll nicht gerichtet werden. Aber es gab da hohle Töne in seiner Rede, auf die er selbst hören müßte: die Arie von den „Sorgen und Nöten der Menschen in der DDR“ ist falsch. Wie auch seine Legen-Sie-die-Bücher -Offen-Rhetorik - weil es sich nicht nur um „Menschen“, sondern auch um DDR-Bürger handelt, die die DDR nicht verlassen für dieses oder jenes Sanierungsprogramm, sondern auch für eine Idee der Vereinigung. Daß die Tempokraten im Kanzleramt nicht begreifen, daß die Erbschaft des Sozialismus nicht nur eine kaputte Wirtschaft ist, sondern auch eine real existierende Gesellschaft, ist schon lange bekannt. Aber der gesamtdeutsche Sozialarbeiter Lafontaine will es offenbar nicht wissen. Er hat die Vereinigung der Deutschen offensichtlich geistig noch nicht verarbeitet. Im Namen der „Sorgen und Nöte“ redet er genau so über die Menschen, wie über sie Sanierungsprogramme beschlossen werden.
Im Bonner Inversionsklima kann leicht vergessen werden, daß die Vereinigung der Deutschen heißt, eine sozialistische Gesellschaft zu verwandeln. Die Alternative steht auf der Tagesordnung der Geschichte (aber nicht auf der der Bonner Politik): ob diese sozialistische Gesellschaft in den Untergrund der Millionen privaten Miseren verdrängt werden soll oder ob ihre Erfahrungen genutzt werden - es ist die Alternative zwischen Vereinigungs-Ökonomismus oder Demokratisierung. Antje Vollmer ist es zu verdanken, daß diese Alternative deutlich wurde. Es ist die Frage, ob ihre eigene Partei ihr zu folgen vermag. Auf jeden Fall hat sie eine politische Kampfansage für die Zukunft gemacht, während Lafontaine nur der Kandidat war, der besser rechnen kann. Aber: Buchhalter der Milliarden, die im Namen der „Menschen der DDR“ zum Taschenrechner greifen, gibt es viel zu viele. Sie machen aus der großen Chance der Vereinigung einen Bilanzenstreit. Ein Generationswechsel steht an, in der Tat!
Klaus Hartung
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